Interview

Banden bauen neue kriminelle Netzwerke auf – Kripo-Experte: „Kind ist schon in den Brunnen gefallen“

  • Peter Sieben
    VonPeter Sieben
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Der SPD-Bundestagsabgeordnete Sebastian Fiedler kritisiert NRW-Innenminister Herbert Reul. Dessen Kampf gegen Clankriminalität sei gescheitert, sagt er – und stellt einen neuen Präventionsansatz vor.

Berlin – Falls alles schlecht läuft, war der 16. Juni 2023 nur ein Anfang. Damals waren im Ruhrgebiet Hunderte mit Eisenstangen und Messern aufeinander losgegangen. Ursache war ein Konflikt zwischen Großfamilien mit kurdisch-libanesischen und syrischen Wurzeln. Sicherheitsexpertinnen und -experten glauben, dass es erneut zu Straßenkämpfen kommen kann. Unterdessen entwickeln im Ruhrgebiet, Berlin und anderen Städten Schleuserbanden aus Syrien hochkriminelle Strukturen. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Sebastian Fiedler ist Kriminalhauptkommissar und Innen-Experte seiner Partei. Er sieht Versäumnisse in der Innenpolitik vor allem in NRW.

SPD-Innenexperte Sebastian Fiedler war bis 2021 Bundesvorsitzender des Bundes deutscher Kriminalbeamter.
Experten beobachten, dass kriminelle Banden aus Syrien in Deutschland kriminelle Netzwerke aufbauen. Wie reagiert der Staat darauf?
Das Kind ist schon in den Brunnen gefallen, solche Strukturen gibt es ja schon. Der Staat muss im ersten Schritt sehr repressiv vorgehen. Denn sonst können im zweiten Schritt auch Präventionsmaßnahmen, die sich zum Beispiel an straffällig gewordene Jugendliche richten, ihre Wirkung nicht entfalten. Die Jugendlichen müssen sehen, dass kriminelles Handeln negative Konsequenzen nach sich zieht.
Passiert das nicht schon? In NRW propagiert Innenminister Herbert Reul eine Politik der 1000 Nadelstiche, bei der kriminelle Clans immer wieder empfindlich gestört und mürbe gemacht werden sollen.

Clankriminalität

► Wenn die Rede von kriminellen Clans ist, sind in Deutschland oft kriminelle Mitglieder von Großfamilien mit kurdisch-libanesischen Wurzeln gemeint. Die meisten Menschen aus diesen Familien sind nicht kriminell. Wenige Subclans aber haben sich zu Gruppierungen zusammengeschlossen, die Straftaten im Bereich der organisierten Kriminalität begehen.

► Viele gehören den sogenannten Mhallami an, einer arabischstämmigen Volksgruppe. Ihre Vorfahren wurden nach dem Ersten Weltkrieg aus der Türkei vertrieben, kamen dann in den Libanon. Als dort Bürgerkrieg ausbrach (1975 bis 1990), flohen viele der Familien nach Deutschland.

► Als Staatenlose erhielten sie den Duldungsstatus, viele konnten keiner geregelten Arbeit nachgehen. Experten sehen in der Perspektivlosigkeit einen Grund dafür, dass sich kriminelle Netzwerke innerhalb der Familien gebildet haben.

► Seit einigen Jahren bauen hochkriminelle Banden aus Syrien in mehreren deutschen Städten kriminelle Netzwerke auf. Klar ist: Die allermeisten Menschen, die aus Syrien nach Deutschland kommen, sind nicht kriminell, wie etwa zuletzt auch Politologe Mahmoud Jaraba im Gespräch mit IPPEN.MEDIA betonte. Aber innerhalb der Community entwickeln sich kriminelle Strukturen. Kriminelle Clans bauen ihre Macht nach und nach auf.“ Das sei eine ähnliche Entwicklung, wie sie in den 1980er Jahren in der libanesisch-türkischen Community passiert sei. „Aber selbst, wenn es nur fünf oder zehn Prozent sind, reden wir immer noch über tausende Menschen, die sich kriminell organisieren“, so Jaraba.

Das Prinzip der 1000 Nadelstiche ist gescheitert. Mir ist nicht bekannt, dass Herbert Reul jemals belegen konnte, dass diese Aktivitäten erfolgreich waren. Den Beweis ist er bis heute schuldig geblieben.
Aber es gab in NRW zwischen 2018 und diesem Jahr über 2000 Razzien gegen Clankriminalität. Reicht das nicht?
Mit Show-Razzien kommt man nicht weiter. Außer vielleicht in der öffentlichen Meinung. Herbert Reul hat Einsätze danach geplant, auf welcher Club-Tanzfläche oder vor welcher Shisha-Bar er vor den Kameras am besten wirkt. Das hat er meines Wissens als einziger Innenminister in ganz Deutschland so betrieben. Alle anderen haben einfach ihre Arbeit gemacht.
Wie müsste man es denn aus Ihrer Sicht besser machen?
Man benötigt für Einsätze gegen kriminelle Clanmitglieder viel mehr hoch qualifizierte Kripo-Kräfte, etwa für verdeckte Ermittlungen. Der Aufwand ist enorm. Nehmen wir als Beispiel NRW: Allein für das Ruhrgebiet wären auf der reinen Ermittlerseite im Kampf gegen Clankriminalität mindestens 100 bis 200 zusätzliche Kräfte nötig, da sind sich alle Experten einig, die direkt damit zu tun haben. Innenminister Herbert Reul hat dann aber über Jahre hinweg für das gesamte Bundesland gerade einmal 20 Stellen geschaffen. So konnte es nicht funktionieren, das ist unmöglich.
Sozialarbeiter und Kriminalbeamte sehen aktuell ein ganz neues Problem: Immer öfter werden kriegstraumatisierte Kinder und Jugendliche aus syrischen Familien straffällig. Hat die Bundespolitik das im Blick?
Das Problem ist, dass bei manchen dieser Familien Gewalt als Konfliktlösungsmechanismus etabliert ist. Die würden nicht vor einem Zivilgericht um ihre Rechte streiten. Deshalb gab es auch die Massenschlägereien im Sommer im Ruhrgebiet. Das Risiko, dass so etwas noch öfter passiert, ist hoch. Zusätzlich besteht die Gefahr, dass es zu Konflikten kommen könnte zwischen Clankriminellen, die Gegner des syrischen Diktators Assad sind, und dessen Anhängern. Das sind Konflikte, die nach dem Prinzip des Stärkeren ausgehandelt werden.
Gibt es keine Präventionsmaßnahmen?
Doch. Ich habe mich dafür starkgemacht, dass im Bundeshaushalt zwei Millionen Euro für eine interdisziplinäre Bundesakademie bereitgestellt werden, damit die Kriminalprävention in Deutschland auf ein neues Level gehoben werden kann. Dort soll auch systematisch erforscht werden, welche Präventionsmethoden wirklich zielführend sind, um sie anschließend in die Praxis zu überführen. In den nächsten Wochen wird sich zeigen, ob das angesichts der neuen Haushaltslage umgesetzt werden kann.

Rubriklistenbild: © dts Nachrichtenagentur/imago

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