Benjamin Netanjahu, Ministerpräsident von Israel,
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Benjamin Netanjahu, Ministerpräsident von Israel.

Krieg in Israel

„Selbstgefällig“ und „schlecht informiert“: Kritik an Netanjahu in Israel wächst weiter

  • Sonja Thomaser
    VonSonja Thomaser
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Ein Israel-Experte gibt Benjamin Netanjahu ein vernichtendes Zeugnis. Er spricht von Kommunikationsversagen und der Vernachlässigung von Sicherheit.

Tel Aviv – Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hält an seinem harten Kurs im Krieg in Israel fest. In einer Rede von Montag (30. Oktober) lehnte er erneut Forderungen nach einem Waffenstillstand ab. Er verglich diese Weigerung mit der Reaktion der USA auf Pearl Harbor und den 11. September.

Israel hatte am Samstag (28. Oktober) eine neue Phase in seinem Krieg gegen die Hamas eingeleitet, indem es Bodentruppen nach Gaza verlegt hat.

Krieg in Israel: Scharfe Kritik an Netanjahu

Die Kritik an Netanjahu wird immer lauter. Seine Fehltritte seien schwerwiegend und vielschichtig – von törichten, vom Ego getriebenen politischen Fehleinschätzungen bis hin zur Unterschätzung der Fähigkeit der Hamas, ein solches Massaker in seinem Heimatland durchzuführen, spricht Gershom Gorenberg, ein in Jerusalem ansässiger israelisch-amerikanischer Historiker und Journalist. Er berichtet seit mehr als 30 Jahren über Angelegenheiten des Nahen Ostens.

Anfang dieses Monats, kurz nachdem die Hamas 1400 Israelis getötet und Hunderte weitere als Geiseln genommen hatte, schrieb er einen Aufsatz für die New York Times, in dem er das Versagen der Regierung Netanjahus bei der Verhinderung des Terroranschlags anprangerte und seinen Sturz als Ministerpräsident forderte.

„Kompetente Leute wollten nicht Teil von Netanjahus Regierung sein“

„Dabei gibt es zwei Ebenen“, erklärt Gorenberg dem us-amerikanischen Politikmagazin Mediaite. „Eine ist der unmittelbare Stand der letzten Monate und eine ist die längere Geschichte einer gescheiterten Strategie in der Konzeption. Die Geschichte der letzten Monate ist, dass Netanjahu Ende vergangenen Jahres mit der extremsten und am wenigsten kompetenten Regierung, die er in seinen vielen Jahren als Premierminister hatte, in das Amt des Premierministers zurückkehrte.“

„Kompetente Leute wollten nicht Teil von Netanjahus Regierung sein“, sagt er. Laut Gorenberg blieben dem Premierminister damit nur noch „ultraorthodoxe Parteien und die extrem religiöse nationalistische Rechte“ übrig. Seine eigene Likud-Partei hat nach und nach kompetente Mitarbeitende verloren, da frühere Verbündete ausgetreten sind und von Netanjahus Führung frustriert waren.

„Sie ist immer mehr zur Partei der Persönlichkeit um Netanjahu geworden, da Menschen, die nicht mit ihm übereinstimmten, das Gefühl hatten, dass sie in der Partei keinen Platz hätten und nicht mit ihm zusammenarbeiten könnten. Es entsteht also eine Regierung aus Leuten, die eindeutig unqualifiziert sind“, so Gorenberg gegenüber Mediaite.

Das Ergebnis dieses Chaos und der Korruptionsvorwürfe gegen den Premierminister sei, dass „Netanjahu den Sicherheitsfragen einfach keine Aufmerksamkeit schenkte“, sagt er.

Netanjahu „selbstgefällig und schlecht informiert“

Darüber hinaus sagte Gorenberg, Netanyahu habe eine selbstgefällige und schlecht informierte Sicht auf die Hamas, die 2007 durch einen Putsch die Kontrolle über den Gazastreifen übernahm und die regierende Palästinensische Autonomiebehörde vertrieb.
„Diese Gruppe, die im Wesentlichen an die Ausrottung Israels glaubt, bedeutete, dass die angebliche Gefahr einer Verhandlungslösung nicht bestand“, sagt er.

Bilder zeigen, wie der Krieg in Israel das Land verändert

Massive Raketenangriffe aus Gazastreifen auf Israel
Am 7. Oktober 2023 feuern militante Palästinenser aus dem Gazastreifen Raketen auf Israel ab. Die im Gazastreifen herrschende islamistische Hamas, die von Israel, der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft wird, hatte den Beginn einer „Militäroperation“ gegen Israel verkündet. © Hatem Moussa/ dpa
Massive Raketenangriffe aus Gazastreifen auf Israel
Nach einem Raketenangriff aus dem Gazastreifen ist Rauch aus einem Wohnhaus zu sehen.  © Ilia Yefimovich/ dpa
Israelischer Soldat mit Hund im Israel Krieg
Ein israelischer Soldat geht mit seinem Hund zwischen Autos in Deckung.  © Ohad Zwigenberg/ dpa
Israelische Polizisten evakuieren Frau und Kind im Israel Krieg
Israelische Polizisten evakuieren eine Frau und ein Kind von einem Ort, der von einer aus dem Gazastreifen abgefeuerten Rakete getroffen wurde. © Tsafrir Abayov/ dpa
Militante Palästinenser fahren im Israel Krieg mit einem Pickup, auf dem womöglich eine entführte deutsch-israelische Frau zu sehen ist.
Militante Palästinenser fahren mit einem Pickup, auf dem möglicherweise eine deutsch-israelische Frau zu sehen ist, in den Gazastreifen zurück. Die islamistische Hamas hatte mitgeteilt, ihre Mitglieder hätten einige Israelis in den Gazastreifen entführt. © Ali Mahmud/ dpa
Massive Raketenangriffe aus Gazastreifen auf Israel
Angehörige der Feuerwehr versuchen, nach einem Raketenangriff aus dem Gazastreifen das Feuer auf Autos zu löschen. © Ilia Yefimovich/ dpa
Menschen suchen in Trümmern nach Überlebenden nach massive Raketenangriffen aus Gazastreifen auf Israel.
Menschen suchen zwischen den Trümmern eines bei einem israelischen Luftangriff zerstörten Hauses nach Überlebenden.  © Omar Ashtawy/ dpa
Verlassene Stätte des Festivals Supernova nach dem Angriff der Hamas
Bei dem Rave-Musikfestivals Supernova im israelischen Kibbuz Re’im sterben rund 270 Besucher:innen. So sieht die verlassene Stätte nach dem Angriff aus.  © JACK GUEZ / AFP
Feiernde Palästinenser nach Angriff der Hamas auf Israel
Palästinenserinnen und Palästinenser feiern in Nablus nach der großen Militäroperation, die die Al-Qassam-Brigaden, der militärische Flügel der Hamas, gegen Israel gestartet haben.  © Ayman Nobani/ dpa
Hamas-Großangriff auf Israel - Gaza-Stadt
Das israelische Militär entgegnete mit dem Beschuss von Zielen der Hamas im Gazastreifen. Nach einem Angriff steigen bei einem Hochhaus in Gaza Rauch und Flammen auf. © Bashar Taleb/ dpa
Mann weint in Gaza bei Israel Krieg
Ein Mann umarmt einen Familienangehörigen im palästinensischen Gebiet und weint.  © Saher Alghorra/ dpa
Israelischer Soldat im Israel Krieg steht neben Frau
Am 8. Oktober beziehen israelische Soldaten Stellung in der Nähe einer Polizeistation, die am Tag zuvor von Hamas-Kämpfern überrannt wurde. Israelische Einsatzkräfte haben dort nach einem Medienbericht bei Gefechten in der an den Gazastreifen grenzenden Stadt Sderot mehrere mutmaßliche Hamas-Angehörige getötet. © Ilan Assayag/ dpa
Nach Hamas Großangriff - Sa'ad
Israelische Streitkräfte patrouillieren in Gebieten entlang der Grenze zwischen Israel und Gaza, während die Kämpfe zwischen israelischen Truppen und islamistischen Hamas-Kämpfern weitergehen. © Ilia Yefimovich/ dpa
Palästinensisches Kind in einer Schule, die im Israel Krieg als Schutz dient
Ein palästinensisches Kind steht auf dem Balkon einer Schule, die von den Vereinten Nationen betrieben wird und während des Konfliktes als Schutzort dient.  © Mohammed Talatene/ dpa

„Und Netanjahu kam insbesondere nach der letzten Kampfrunde im Jahr 2021 mit Gaza zu der Überzeugung, dass die Hamas von künftigen Angriffen auf Israel abgeschreckt worden sei und dass sie im Wesentlichen durch relativ geringe wirtschaftliche Anreize aufgekauft worden sei. Und wieder einmal, dass der Konflikt bewältigt werden konnte.“ Gorenberg fügt gegenüber Mediaite hinzu: „Netanjahu hatte den Iran immer als große Bedrohung für Israel im Auge. Und es ist, als würde er die Drohung der Hamas nicht sehen. Und es gab Warnungen von Menschen innerhalb der politischen Struktur Israels und in der Öffentlichkeit, dass die Gefahr besteht, dass die Hamas von dort aus angreifen könnte. Aber darauf hat er nicht geachtet.“

Das Versagen liege nicht allein bei Netanjahu, sagt Gorenberg, da auch der israelische Geheimdienst von Unaufmerksamkeit geplagt werde.

Netanjahu: „Das Einzige, was ich zum Rücktritt bewegen möchte, ist die Hamas“

Netanjahu musste seit dem Angriff vom 7. Oktober einen Rückgang seiner Unterstützung innerhalb Israels hinnehmen.
„80 Prozent der israelischen Öffentlichkeit sagen, dass Netanjahu öffentlich die Verantwortung für das Scheitern übernehmen sollte, etwas, das er hartnäckig abgelehnt hat“, betont Gorenberg gegenüber Mediaite. „Umfragen zeigen, dass, wenn heute Wahlen stattfinden würden, seine Partei fast die Hälfte ihrer Unterstützung in der Öffentlichkeit verlieren würde.“

Nach seiner Rede am Montag wurde Netanjahu zum Rückgang seiner Unterstützung befragt und von einem Reporter gefragt, ob er einen Rücktritt vorhabe. „Das Einzige, was ich zum Rücktritt bewegen möchte, ist die Hamas“, antwortete er. „Wir werden sie in den Mülleimer der Geschichte verbannen.“

Vorwurf des Kommunikationsversagens an Netanjahu

Zur erschütternden Zahl ziviler Opfer in Gaza sagt Gorenberg zu Mediaite: „Darüber hinaus waren die Erklärungen der Regierung zu ihrem Vorgehen grausam. Tatsächlich hat die Regierung die Verantwortung sicherzustellen, dass ihre Ziele militärisch sind. Es ist eine Realität, dass die militärische Infrastruktur der Hamas tief in der zivilen Struktur vergraben ist, und zumindest hat die Regierung die Verantwortung, viel besser zu erklären, was die Ziele sind und dass sie nur auf militärische Ziele abzielt.“

Gorenberg fügte hinzu, dass das anhaltende Kommunikationsversagen von Netanjahu der israelischen Sache nicht fördere.
„Es verstärkt nur den Eindruck, dass Zivilisten das Ziel sind. Und dass es dabei nicht um Verteidigung oder die Verhinderung eines weiteren Angriffs geht.“ (Sonja Thomaser)