Interview

Neues Fach und keine Noten? So könnte die Schule den Weg aus der Krise finden

  • Andreas Schmid
    VonAndreas Schmid
    schließen

Wie reagieren auf den Pisa-Schock? Im Interview spricht der frühere Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz über neue Lernkonzepte – und Markus Söder.

„Deutschland erlebt neuen Pisa-Schock: Schülerinnen und Schüler so schlecht wie noch nie“ oder „Pisa-Debakel in Deutschland: Note 6 für die Politik“: Überschriften von Ende 2023, die kein gutes Haar am Zustand deutscher Schulen lassen. In der Pisa-Studie, die die schulischen Leistungen in Industrieländern vergleicht, hatten die 15- bis 16-Jährigen in Deutschland in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften die schwächsten Leistungswerte erreicht, die je für die Bundesrepublik gemessen wurden.

Lennart-Elias Seimetz hat dieses Ergebnis nicht überrascht. Er war mehrere Jahre Landesschülersprecher des Saarlands sowie Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz. Nach dem Abitur hat er ein Buch über den aktuellen Zustand des deutschen Bildungssystems geschrieben. Im Interview mit IPPEN.MEDIA spricht der 20-Jährige über den Weg aus der Bildungskrise.

Herr Seimetz, in den vergangenen Monaten wurde viel über die Pisa-Studie diskutiert. Hat Sie das schlechte Ergebnis überrascht?
Nein, überrascht hat mich nur der Umgang damit. Die Ergebnisse sind ja so schlecht wie beim Pisa-Schock 2000. Damals hat man eine krasse Bildungswende ausgerufen und es hat sich tatsächlich einiges geändert. Jetzt sind wir wieder so schlecht, doch man hört nicht wirklich, was man jetzt tun sollte.
Was sollte man denn tun?
Es ist wichtig, mehr auf die Menschen zu hören, die selbst in der Schule sind: also Eltern, Lehrer, Schüler. Zum anderen muss sich die Politik klar werden, dass Bildung die Ressource Nummer eins ist, die wir auf der Welt haben. Wenn wir keine gebildeten Menschen haben, niemanden, der denken und kreativ sein kann, also all das, was Roboter nicht können, dann funktioniert es einfach nicht. Dementsprechend muss man aber auch investieren.
Das heißt, Bildungspolitik muss in den Köpfen der Politik wichtiger werden?
Ja, auf jeden Fall. Man muss weg von dem Denken in Legislaturperioden und braucht eine klare Priorisierung bei der Finanzierung. Überspitzt kann man sagen: Der Automobilindustrie helfen keine Milliarden-Subventionierungen, wenn sie keine Arbeitskräfte mehr bekommt, weil die Bildung so schlecht geworden ist.

Digitalisierung an deutschen Schulen: „Das hat nichts mit moderner Bildung zu zun“

In Homeschooling-Zeiten rückte das Thema Digitalisierung in den Fokus. Wie ist Deutschland hier aufgestellt?
Nicht sonderlich gut. Viele Lernsoftwares laufen nicht so, wie sie sollten, und es gibt viele Pleiten und Pannen. In Nordrhein-Westfalen wurde mit den ersten Investitionen erstmal eine Online-Ausgabe der Brockhaus-Enzyklopädie gekauft. Das hat nichts mit moderner Bildung zu tun. Auf der anderen Seite sind die Lehrkräfte immer noch viel zu wenig gebildet und nicht auf dem aktuellen technischen Stand.
Sie schreiben in Ihrem Buch von „Schulen, in denen das Verlegen des Netzwerkkabels daran scheitert, dass der Brandschutz das Bohren von Löchern durch Wänden untersagt“. Das haben Sie sich doch ausgedacht – oder ist das wirklich der Fall?
Das ist leider wirklich der Fall. Man erlebt ganz oft, dass die gute Anbindung ans Netz am Schultor endet. Man hat einerseits kein Geld, das anders zu machen, und andererseits noch Hindernisse wie eben den Brandschutz. Und dann wundert man sich, warum die Endgeräte in der Schule nicht funktionieren.
Das Symbol fehlender Digitalisierung an deutschen Schulen: der Overheadprojektor.
Sie schreiben auch von neuen Lernkonzepten. Was meinen Sie damit?
Aktuell haben wir vielerorts diesen klassischen Frontal-Unterricht. Die Schüler hören anderthalb Stunden zu, der Lehrer referiert vorne, dann werden ein paar Arbeitsblätter gemacht, es gibt Hausaufgaben und dann müssen die Schüler den Unterrichtsstoff irgendwie können. Aber wir sehen doch, dass diese stupide Arbeit keine Zukunft hat. Das kann zur Not auch vom Roboter übernommen werden. Wir müssten daher viel stärker Eigenschaften wie Teamarbeit oder Kreativität fördern. Entscheidend ist auch die Praxisorientierung. Wenn Schüler aus der Schule kommen, wissen sie oft gar nicht, wie die Arbeitswelt aussieht, weil man da nie so richtig einen Einblick bekommt.

Zukunft deutscher Schulen: Neues Fach an deutschen Schulen und keine Noten?

Apropos Praxisunterricht: Viele Schüler wissen nach ihrem Abschluss auch wenig vom realen Leben, Stichwort Steuererklärung oder Haushaltsplanung. Braucht es da ein neues Fach?
Ich glaube, die meisten verstehen die Definition von Schule als einen Ort, der einem das Wissen für das spätere Leben ermöglicht. Das bedeutet zum einen, dass man alles studieren oder jede Ausbildung machen kann. Zum anderen aber auch, dass man sich im Leben zurechtfindet – und das tut Schule aktuell nicht. Steuererklärung können ohnehin die wenigsten, aber auch sowas wie Wäschewaschen kriegen nicht alle beigebracht, etwa Schüler, die in nicht so guten Familienverhältnissen leben. Das gehört daher mehr eingebunden in den Lernort Schule. Das geht niederschwellig über verschiedene Projekte oder Seminare – oder darüber hinausgehend in einer Verankerung als Schulfach.

Andere Modelle zeigen, dass es keine negativen Auswirkungen hat, wenn man die Noten weglässt.

Lennart-Elias Seimetz
Sollte Schule generell benotet werden?
Wir sehen, dass der Leistungsdruck in den Schulen recht groß ist und das negative Auswirkungen auf Schüler und die Schulgemeinschaft haben kann. Andere Schulformen wie Montessori oder Waldorfschulen zeigen auf, wie es wunderbar funktionieren kann, wenn die Note nicht im Vordergrund steht. Eine spannende Option sind Wortzeugnisse. Sie zeigen nicht nur eine Zahl, sondern auch, wo man sich konkret verbessert hat, sind viel aussagekräftiger und nehmen den Druck der Vergleichbarkeit.
Es gibt einige Stimmen, denen diese Vergleichbarkeit wichtig ist. Markus Söder sagte vor kurzem, das Bremer Abi habe „bestenfalls das Niveau einer niederbayerischen Baumschule“.
Der politische Aschermittwoch ist dazu da, solch polemische Statements raushauen zu können, aber zurück zu den Fakten: Andere Modelle zeigen, dass es keine negativen Auswirkungen hat, wenn man die Noten weglässt. Die skandinavischen Länder vergeben keine Noten – und stehen an der Spitze der Pisa-Studien.
Bleiben wir kurz bei Bayern. Der Freistaat will als Reaktion auf die Pisa-Ergebnisse mehr Deutsch- und Matheunterricht. Das ganze soll zulasten von Musik und Kunst oder Englisch gehen. Ist das der richtige Weg?
Nein, absolut nicht. Nicht der wenige Unterricht eines Faches ist an den schlechten Ergebnissen Schuld, sondern eher wie man das Fach unterrichtet und was man dort vermittelt. Klar ist auch: Wir brauchen gerade dieses kreative, freie, problemlösungsorientierte Denken. Zwei und zwei zusammenrechnen, das kriegt der Supercomputer 60.000-mal besser hin als jeder Schüler, der das in der Schule gelernt hat. Aber diese Informationen dann tatsächlich sinnvoll zu verknüpfen, das schafft der Computer eben nicht und das kann dann der Mensch. Aber dafür braucht es auch ein gewisses Maß an Kreativität und freiem Denken. Also ich glaube nicht, dass das jetzt die magische Lösung wird, um die Pisa-Ergebnisse zu korrigieren.

Über das Buch: „Total überfordert, total kaputt, total wichtig. Wie Schule sein sollte und was Ihr dafür tun müsst. Ein Schülersprecher redet Klartext“. Lennart-Elias Seinmetz, Dietz Verlag, erschienen im Dezember 2023, 18 Euro.

Rubriklistenbild: © Marijan Murat/dpa/Symbolbild

Mehr zum Thema