Neuer SIPRI-Jahresbericht
Zahl der Atomsprengköpfe steigt – vor allem in China: So gefährlich wird die Welt
VonChristiane Kühlschließen
Die Atommächte forcieren den Ausbau ihrer Atomwaffenarsenale. Vor allem China hat den Bestand an Sprengköpfen zuletzt stark ausgebaut. Das zeigt der neue Bericht des Stockholmer SIPRI-Instituts
Stockholm/München – Die atomare Abrüstung ist Geschichte. Heute stehen die Zeichen auf nuklearer Aufrüstung. Alle neun Atomwaffenstaaten forcieren angesichts der weltweit wachsenden geopolitischen Spannungen die Modernisierung und Einsatzfähigkeit ihrer Arsenale. Das zeigt der am Montag veröffentlichte Jahresbericht des Stockholmer Friedensforschungsinstitutes SIPRI.
Vom weltweiten Gesamtbestand von schätzungsweise 12.512 Sprengköpfen im Januar 2023 befanden sich demnach etwa 9.576 in militärischen Lagerbeständen für den potenziellen Einsatz – 86 mehr als im Januar 2022. „Wir driften in eine der gefährlichsten Perioden der Menschheitsgeschichte“, warnte SIPRI-Direktor Dan Smith. Seit Beginn des Ukraine-Krieges sinke zudem die Transparenz rund um die Atomwaffenbestände. Mit Sorge verweist SIPRI zudem auf die schärfere Rhetorik der Länder in Bezug auf Atomwaffen.
Aufgrüstet hat vor allem China. SIPRI schätzt die Zahl der Atomsprengköpfe der Volksrepublik auf 410 im Januar 2023, gegenüber 350 im Januar 2022. Das ist zwar weniger als ein Zehntel der Bestände der USA oder Russlands. Doch die traditionellen westlichen Atommächte Großbritannien und Frankreich hat China damit schon überholt. Und SIPRI erwartet weitere Zuwächse. Je nachdem, wie China seine Streitkräfte strukturiere, „könnte es bis zum Ende des Jahrzehnts über mindestens so viele ballistische Interkontinentalraketen (ICBM) verfügen wie die USA oder Russland“, so der Bericht.
Chinas nukleare Aufrüstung schafft Atomdreieck
Jahrzehntelang war die Welt daran gewöhnt, dass China sein Atomwaffenarsenal nach dem Prinzip der „minimalen Abschreckung“ aufgestellt hatte: gerade genug Raketen, um einen Angriff zu verhindern. Doch angesichts der neuen Zahlen „wird es immer schwieriger, diesen Trend mit dem erklärten Ziel Chinas in Einklang zu bringen, nur über ein Minimum an Nuklearstreitkräften zu verfügen, das zur Aufrechterhaltung seiner nationalen Sicherheit erforderlich ist“, sagte Hans M. Kristensen vom SIPRI-Programm für Massenvernichtungswaffen.
Zum ersten Mal stehen die Vereinigten Staaten damit zwei großen Atommächten gegenüber, deren nationale Sicherheitsinteressen denen der USA weitgehend widersprechen. Russland und China haben zwar keine Militärallianz geschlossen, sind aber geeint in gemeinsamer Ablehnung der USA. „Ein Krieg mit beiden ist weder unvermeidlich, noch steht er unmittelbar bevor“, sagte kürzlich der US-Stabschef General Mark Milley bei einer Anhörung des Streitkräfte-Ausschusses im US-Repräsentantenhaus. Doch er warnte zugleich: „Einen Krieg mit Russland und China gleichzeitig zu führen, das wäre sehr schwierig.“
Atomare Aufrüstung: Gefährliche Welt
Zwar besitzen Russland und die USA zusammen mehr als 90 Prozent aller Atomwaffen der Welt; die Doktrin der ‚gegenseitig gesicherten Zerstörung‘ gilt zwischen ihnen noch immer. Doch ein Atomdreieck ist deutlich schwerer zu managen als das bislang gewohnte Duell – denn keiner kann sich sicher sein, ob die zwei anderen sich nicht zusammentun und eine nukleare Übermacht bilden.
Derzeit scheinen die Fronten klar: Die USA sehen sich den beiden autoritären Staaten Russland und China gegenüber; deren kombiniertes Nuklear-Arsenal ist deutlich größer als das der USA. Zugleich geht in Europa die Angst um, dass Russland in der Ukraine taktische Atomwaffen einsetzen könnte. Japan liebäugelt angesichts der wachsenden atomaren Bedrohung durch Nordkorea mit einer Stationierung von Nuklearwaffen im eigenen Land. Die zerstrittenen Nachbarn Pakistan und Indien bauen ihre Arsenale aus, und das von feindlichen Nachbarn umgebene Israel soll ebenfalls Atomsprengköpfe besitzen.
G7-Außenminister besorgt über Ausweitung des chinesischen Atomarsenals
Beim G7-Außenministertreffen Mitte April in Japan drückten die G7 ihre Sorge aus über „die anhaltende und beschleunigte Ausweitung des chinesischen Atomwaffenarsenals und die Entwicklung immer ausgeklügelterer Trägersysteme“. Die Minister forderten China damals auf, „unverzüglich Gespräche mit den USA über die Verringerung strategischer Risiken aufzunehmen und die Stabilität durch eine größere Transparenz der chinesischen Kernwaffenpolitik, -pläne und -fähigkeiten zu fördern“.
Umgekehrt treibt die Sorge des Westens vor Russland oder China die Atomstaaten dazu, nun erst recht an der nuklearen Abschreckung festzuhalten. In den USA richtete sich diese Abschreckung in den Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges mehr Richtung Iran oder Nordkorea aus. Nun ist die Abschreckung gegen Russland wieder auf dem Tisch, hinzu kommt die Abschreckung gegen China.
Das „unverantwortliche nukleare Säbelrasseln“ Wladimir Putins im Ukraine-Krieg habe die Bedeutung der nuklearen Abschreckung der USA als Fundament der nationalen Sicherheit erneut unterstrichen, betonte etwa kürzlich der Staatssekretär im US-Verteidigungsministerium John Plumb in einer Anhörung des US-Kongresses. Zwar beendete Putin diese Drohungen, nachdem sich Chinas Staatschef Xi Jinping mehrmals öffentlich gegen einen Atomwaffeneinsatz ausgesprochen hatte. Doch Washington beobachtet jedes Anzeichen einer nuklearen Zusammenarbeit der beiden mit Argusaugen. So berichtete Plumb über „verstörende“ russische Lieferungen hochangereicherten Urans nach China. Dieses könne zur Herstellung waffenfähigen Plutoniums verwendet werden.
Zu viele Atomwaffen? China weist Kritik zurück
China wies bereits im April Vorwürfe einer exzessiven Aufrüstung sowie einer atomaren Kooperation mit Russland zurück. „China ist einer unabhängigen Außenpolitik des Friedens, einer defensiven Nuklearstrategie und einer Politik des ‚Nicht-Ersteinsatzes‘ von Atomwaffen verpflichtet“, sagte damals Außenamtssprecherin Mao Ning. Im Gegensatz dazu würden die USA sich weiter einen Erstschlag vorbehalten, verfügten über „das größte und modernste Atomwaffenarsenal der Welt“, stationierten Atomwaffen in Europa und bildeten „nukleare Allianzen“. Hinweise auf eine Bereitschaft zu Abrüstungsverhandlungen zwischen China und der USA sind derzeit nicht bekannt.
SIPRI-Direktor Smith zeigte sich auch darüber besorgt: „Die Regierungen der Welt müssen unbedingt Wege der Zusammenarbeit finden, um geopolitische Spannungen abzubauen, das Wettrüsten zu verlangsamen und die sich verschlimmernden Folgen von Umweltzerstörung und steigendem Welthunger zu bewältigen.“
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