Verfolgung der Opposition

Zweieinhalb Jahre Straflager: Russischer Menschenrechtler Orlow verurteilt

  • VonLisa Mahnke
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Der Aktivist Oleg Orlow kommt wegen seiner Kritik am Ukraine-Krieg in Haft. Die Opposition in Russland schrumpft. Das Muster ist deutlich.

Moskau – Oleg Orlow erschien schon mit Handschellen im Gerichtssaal. Für seine Kritik am Krieg Russlands in der Ukraine bekam der renommierte Menschenrechtler dann die ganze Härte des Staates zu spüren: Orlow wurde wegen seiner Kritik an den Handlungen im Ukraine-Krieg zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt.

Der ehemalige Co-Vorsitzende der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Organisation Memorial, die mittlerweile in Russland verboten ist, gilt international als politisch Verfolgter und ist einer der wenigen Oppositionellen, die auch nach Kriegsbeginn in Russland geblieben sind. An der Urteilsverkündung im Gericht des Moskauer Stadtbezirks Golowinski nahmen so auch mehrere westliche Diplomaten teil.

Eigentlich hatte der Menschenrechtler im Oktober 2023 bereits eine relativ verhältnismäßige Geldstrafe von 150.000 Rubel (etwa 1505 Euro) wegen „Diskreditierung“ der russischen Armee bekommen, doch im Dezember hob eine Richterin das Urteil wieder auf – der Prozess begann erneut. Schon damals befürchteten Unterstützer des Aktivisten eine Haftstrafe.

Nawalny verlängert die Liste der Opfer Putins – ein Überblick

Alexej Nawalny
Alexej Nawalny war über Jahre der markanteste Kopf der russischen Opposition. Schon früh prangerte der Rechtsanwalt das Machtlager von Präsident Wladimir Putin offen als „Partei der Gauner und Diebe“ an.  © Andrei Zhilin/afp
Wahlen 2012 in Russland: Nawalny protestiert gemeinsam mit Schach-Großmeister Garry Kasparow (l.) für faire Wahlen in Russland – am Ende gewann Wladimir Putin.
Wahlen 2012 in Russland: Nawalny protestiert gemeinsam mit Schach-Großmeister Garry Kasparow (l.) für faire Wahlen in Russland – am Ende gewann Wladimir Putin. © Anatoly Maltsev / dpa
Alexej Nawalny
2013 trat er als Bürgermeisterkandidat in Moskau an und erreichte mit 27 Prozent der Stimmen den zweiten Platz. Später organisierte er Massenproteste im ganzen Land, besonders aber in Moskau. 2018 wollte Nawalny selbst Präsident werden, doch die Justiz schob ihm einen Riegel vor. Wiederholt wurde er wegen Betrugs- und Diebstahlsvorwürfen vor Gericht gestellt und verurteilt. © Kirill Kudryavtsev/afp
Nawalny – damals bereits sozusagen der Superstar der Protestbewegung in Russland – mit seiner Ehefrau Julija, vor Gericht. Nach seinen Protesten kam er damals vorerst frei.
Nawalny – damals bereits sozusagen der Superstar der Protestbewegung in Russland – mit seiner Ehefrau Julija, vor Gericht. Nach seinen Protesten kam er damals vorerst frei. © Valentina Svistunova / dpa
Kreml-Kritiker Nawalny 2017 nach einer Farbattacke vor seinem Büro.
Kreml-Kritiker Nawalny 2017 nach einer Farbattacke vor seinem Büro. © Evgeny Feldman / dpa
Nawalny vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2018. Dort war Russland zuvor wegen Festnahmen des Kreml-Kritikers verurteilt worden.
Nawalny vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2018. Dort war Russland zuvor wegen Festnahmen des Kreml-Kritikers verurteilt worden. © Jean-Francois Badias / dpa
Ein großes Portrait von Alexej Nawalny mitten in St. Petersburg. Nach nur wenigen Minuten ließ man es wieder überstreichen.
Ein großes Portrait von Alexej Nawalny mitten in St. Petersburg. Nach nur wenigen Minuten ließ man es wieder überstreichen. © Alexander Demianchuk / Imago
Alexej Nawalny
Im August 2020 brach Nawalny bei einer Reise zusammen und fiel ins Koma. Grund war eine Vergiftung mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok, wie Untersuchungen an der Charité in Berlin bewiesen. © Instagram account @navalny/afp
Alexej Nawalny
Im Januar 2021 kehrte Nawalny nach Russland zurück, wo er erneut vor Gericht gestellt und unter anderem wegen angeblichem „Extremismus“ zu 19 Jahren Lagerhaft verurteilt wurde. Im Dezember 2023 folgte die Verlegung in ein Lager hinter dem Polarkreis. Am 16. Februar 2024 starb Nawalny nach Justizangaben in dem Straflager. Er sei nach einem Hofgang zusammengebrochen, teilte die Gefängnisverwaltung mit.  © Vera Savina/afp
Am 16. Februar 2024 kommt überraschend dann die Info aus Russland, Nawalny sei im Strafgefangenenlager gestorben
Am 16. Februar 2024 kommt überraschend dann die Info aus Russland, Nawalny sei im Strafgefangenenlager gestorben. Weltweit wird um den Kreml-Kritiker getrauert. © IMAGO/Vuk Valcic / ZUMA Wire
Jewgeni Prigoschin
Jewgeni Prigoschin war in Russland als skrupelloser Unternehmer mit krimineller Vergangenheit bekannt. Er und Putin kannten sich lange. Als der heutige Präsident noch in der St. Petersburger Stadtverwaltung arbeitete, soll er in Prigoschins Restaurant eingekehrt sein. Deshalb war Prigoschin, der mehrere Jahre wegen Raubs in Haft saß, auch als „Putins Koch“ bekannt. Niemand sonst in Russland traute sich solche Kritik wie Prigoschin © ITAR-TASS/Imago
Jewgeni Prigoschin
Über Monate hinweg legte sich Jewgeni Prigoschin mit der Militärführung in Moskau an. Immer wieder warf der Chef der russischen Privatarmee Wagner dem Verteidigungsministerium und dem Generalstab der Armee vor, Präsident Wladimir Putin zu belügen. Mit einem bewaffneten Aufstand seiner Privatarmee forderte Prigoschin aber auch Putin selbst heraus. © Sergey Pivovarov/Imago
Jewgeni Prigoschin
Nach seinem gescheiterten Aufstand sahen Fachleute den Söldnerchef aber dem Tode geweiht. Kremlchef Putin hatte die Kämpfer um seinen Ex-Vertrauten als Verräter bezeichnet. Tatsächlich starb Prigoschin zwei Monate nach seiner Meuterei gegen die russische Staatsmacht im August 2023 bei einem Flugzeugabsturz in Russland. © Imago
Boris Nemzow
Der Oppositionspolitiker Boris Nemzow galt als einer der schillerndsten und mutigsten Politiker Russlands. Feinde machte er sich vor allem mit seiner Kritik an der Ukraine-Politik von Kremlchef Wladimir Putin. Er wurde zur Galionsfigur der zersplitterten Opposition und galt als Unterstützer der Richtung Westen strebenden Ukraine. © Oxana Onipko/afp
Boris Nemzow
Nemzow wurde im Februar 2015 durch mehrere Schüsse in den Rücken aus einem Auto heraus erschossen. Der Mord wirft noch immer viele Fragen auf. Die EU drängte Russland wiederholt dazu, den Fall weiter aufzuklären. Ein Gericht in Moskau verurteilte 2017 den mutmaßlichen Mörder und vier Komplizen aus dem Nordkaukasus zu langen Haftstrafen. Nemzows Familie beklagte, dass nach den Drahtziehern nie wirklich gesucht worden sei. © afp
Boris Nemzow
In den 1990er Jahren hatte sich Nemzow als liberaler Reformer in Russland einen Namen gemacht. Präsident Boris Jelzin (rechts im Bild) holte ihn einst in die Regierung nach Moskau. Nemzow war zeitweilig auch als Präsidentenanwärter gehandelt worden. „Ich bin liberal, was Wirtschaftsfragen angeht, aber für eine starke Staatsmacht in der Politik“, sagte er einmal. © TASS/afp
Alexander Litwinenko
Der Putin-Kritiker Alexander Litwinenko starb im November 2006 in London nach einem Anschlag mit dem radioaktiven Gift Polonium 210. Einem Untersuchungsbericht zufolge soll ihm das Strahlengift in einem Londoner Hotel in den Tee gemischt worden sein. Unter den Augen der Weltöffentlichkeit siechte Litwinenko tagelang dahin. Vom Krankenhausbett beschuldigte er Putin, hinter dem Anschlag zu stecken. Die britische Justiz sieht es ebenfalls als bewiesen an, dass die Spur in hohe politische Kreise in Moskau führt. Russland weist dies zurück. © Sergei Kaptilkin/dpa
Anna Politkowskaja
Die Journalistin Anna Politkowskaja machte sich als Kritikerin der Kriege in Tschetschenien einen Namen. Die Mitarbeiterin Oppositionszeitung Nowaja Gaseta berichtete über Kriegsverbrechen der russischen Armee und der verbündeten tschetschenischen Gruppen und sprach von einem „schmutzigen Krieg“. Häufig musste sie sich gegen Drohungen wehren. Am 7. Oktober 2006 wurde sie vor ihrer Wohnung in Moskau erschossen. Politkowskajas Familie vermutet ein politisches Motiv für die Tat.  © Imago
Boris Beresowski
Die Serie von mitunter rätselhaften Todesfällen, hinter denen russische staatliche Stellen vermutet werden, ist noch sehr viel länger. Der Oligarch Boris Beresowski (Mitte) fiel nach dem Machtantritt Putins in Ungnade und floh nach Großbritannien. Am 23. März 2013 wurde Beresowski tot im Bad seines Hauses in Ascot gefunden.  © Shaun Curry/afp
Pawel Scheremet
Im Juli 2016 kam der russische Exil-Journalist Pawel Scheremet in Kiew durch eine Autobombe ums Leben. Scheremet engagierte sich während der Maidan-Proteste 2013/2014 in Kiew aufseiten der prowestlichen Kräfte und wurde später Redakteur beim renommierten Internetportal Ukrainskaja Prawda. © Dmytro Larin/afp
Denis Woronenkow
2017 wurde der abtrünnige russische Abgeordnete Denis Woronenkow auf offener Straße in Kiew erschossen. Auch sein Fall wurde nie aufgeklärt. © ITAR-TASS/Imago
Sergej Magnizki
Sergej Magnizki starb 2009 unter ungeklärten Umständen in einem Moskauer Gefängnis. Angeblich wurde der Anwalt, der nach eigenen Angaben einen Steuerbetrug aufgedeckt hatte, zu Tode geprügelt. Medizinische Hilfe wurde im verweigert.  © HO/Hermitage Capital Management/afp
Baburowa/Markelow
Die Journalistin Anastassija Baburowa und der Menschenrechtsanwalt Stanislaw Markelow wurden 2009 auf der Straße in Moskau erschossen. Für die Tat wurden ein Rechtsextremist und eine Komplizin zu langen Haftstrafen verurteilt. Sie hatten ihre Schuld bestritten. © ITAR-TASS/Imago
Natalia Estemirowa
Die Menschenrechtlerin Natalia Estemirowa wurde 2009 in der Konfliktregion Nordkaukasus erschossen aufgefunden. Mit Berichten über das Verschwinden von Zivilpersonen in dem Gebiet hatte sie sich wiederholt den Zorn der Machthaber zugezogen. © Memorial/afp
Sergej Juschenkow
Eines der ersten Todesopfer war Sergej Juschenkow. Der Duma-Abgeordnete wurde im April 2003 in Moskau erschossen. Juschenkow war der Staatsführung ein Dorn im Auge, wenngleich der Politiker über wenig Macht und Einfluss verfügte.  © Roman Mukhamedzanov/Vremya Novos/afp

Kritischer Artikel zu Ukraine-Krieg bildet Basis für Verfahren in Russland – Orlow bleibt optimistisch

Das Verfahren gegen Orlow lief mehrere Monate, angestoßen von einem Artikel aus dem November 2022 mit dem Titel „Sie wollten den Faschismus, sie haben ihn bekommen“. Der Text weist unter anderem auf das Leid der ukrainischen Bevölkerung hin. Der Ukraine-Krieg versetze auch „der Zukunft Russlands einen schweren Schlag“, so der Artikel. Unter anderem wurde der Aktivist auch für einen Ein-Mann-Protest in Moskau inhaftiert. Dabei demonstrierte er mit einem Plakat, auf dem laut Moscow Times die folgenden Worte standen: „Unser Unwille, die Wahrheit zu erfahren, und unser Schweigen machen uns zu Komplizen dieses Verbrechens.“

Orlow erzählte der Moscow Times vor seiner Urteilsverkündung, die Haftstrafe sei „eine Forderung von oben“. Er verglich vor einiger Zeit das Verhalten gegenüber Regime-Kritikern heute mit dem der Sowjetunion. Trotzdem blieb der Menschenrechtler optimistisch bezüglich eines Wandels in Russland: „Ich glaube an eine bessere Zukunft. Vor uns liegt eine wahre Zukunft, und dahinter steckt nichts als die Vergangenheit.“

Oleg Orlow wird mit Handschellen aus dem Gerichtsaal abgeführt, nachdem er zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt wurde.

Bei dieser zweiten Urteilsverkündung behaupten die Staatsanwälte „ein Motiv der Feindschaft und des Hasses gegenüber Militärangehörigen“. Orlow erklärte in einer Anhörung in diesem Monat laut Moscow Times: „Ich bekenne mich nicht schuldig und der Vorwurf ist mir nicht klar.“ Orlow bezeichnete den Gerichtsprozess an einer Stelle als „Möglichkeit, meine Ideen und Überzeugungen in die Öffentlichkeit zu tragen“.

UN fordert Russland auf, Urteil gegen Orlow zurückzunehmen: „Paradebeispiel für ein repressives System“

Die UN-Spezialreporterin für die Menschenrechtssituation in Russland, Mariana Katzarowa, forderte russische Behörden auf, das Urteil sofort zurückzunehmen. „Der Prozess gegen Orlow ist nicht nur ein Angriff auf den Einzelnen, sondern ein orchestrierter Versuch, die Stimmen von Menschenrechtsverteidigern in Russland und jegliche Kritik am Krieg gegen die Ukraine zum Schweigen zu bringen“, erklärte Katzarowa. „Es ist ein Paradebeispiel für ein repressives System, in dem Strafverfolgungsbehörden und Justiz für politische Zwecke instrumentalisiert werden.“

Etwa 200 Menschen versammelten sich der Nachrichtenagentur AFP zufolge vor dem Gerichtsaal, um Orlow zu verabschieden. Der Menschenrechtler hatte einen Großteil seines Lebens damit verbracht, Rechtsverletzungen im Rahmen der Memorial-Gruppe zu dokumentieren, bis diese 2021 von russischen Behörden aufgelöst wurde. Ein Jahr später, im Jahr 2022, erhielt die 1989 gegründete Organisation dann den Friedensnobelpreis.

Die Verurteilung steht im Kontext der generellen Verfolgung russischer Oppositionellen, die kurz vor der Russland-Wahl neue Dimensionen anzunehmen scheint. Vor etwas mehr als einer Woche starb der Kreml-Kritiker Alexej Nawalny in einer abgeschotteten Strafkolonie in der Arktis. Der Oppositionspolitiker Boris Nadeschdin kämpft währenddessen für eine Präsidentschaftskandidatur gegen die Justiz, nachdem einige der benötigten Unterschriften für ungültig erklärt wurden. Nun hat sich auch das Schicksal von Orlow verhärtet.(dpa/lismah)

Rubriklistenbild: © ALEXANDER NEMENOV / AFP