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Wollen Geflüchtete nach Deutschland, weil es hier mehr Geld gibt als anderswo? Ein Experte ordnet für Ippen.Media die Debatte um „Pull-Faktoren“ ein.
Kiel – Ist Deutschland „zu attraktiv“ für Asylsuchende? Die Debatte könnte wie eine Verbrämung einer brisanten Frage wirken: „Geben wir den anderen zu viel?” Schließlich ist auch die Kürzung von Zuwendungen die Rede. Aber kann deren Kürzung die irreguläre Migration tatsächlich begrenzen? Oder helfen Sachleistungen und Bezahlkarten für Geflüchtete? „Auf keinen Fall“, sagt der Experte Matthias Lücke vom Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) im Gespräch mit IPPEN.MEDIA.
Asyl-Streit in Deutschland: Aufregung um Pull-Faktoren für IfW-Forscher „Symboldebatte“
Migrationsforscher Lücke hält das für eine Symboldebatte. „In dem Rahmen, in dem wir kürzen könnten, sind Sozialleistungen kein Pull-Faktor.“ Abgesehen von der Frage der Humanität, dem Grundgesetz und der Genfer Flüchtlingskonvention. Denn würden Asylsuchenden hier die Leistungen gekürzt, stünde dem Ökonomen zufolge schnell ein neues Problem im Raum: „Wie würden sie sich dann versorgen?“, fragt Lücke.
Den Begriff „Pull-Faktor“ benutzte zuletzt unter anderem Friedrich Merz. Es sei klar, dass das Gesundheits- und Sozialsystem ein Pull-Faktor für Menschen sei – also ein Anreiz gerade zur Einreise nach Deutschland, sagte der CDU-Chef der Rheinischen Post. Für sein „Lassen sich die Zähne neu machen“ erntete Oppositionsführer Merz aber auch Kritik.
Doch auch der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr forderte im Oktober eine Einstellung von Bargeldzahlungen an Geflüchtete und stattdessen „nur noch Sachleistungen oder Bezahlkarten“, um einen „Pull-Faktor“ zu beseitigen.
Sozialleistungen auf Null: „Keine geeignete Lösung“
„Ich halte es nicht für eine geeignete ‚Lösung‘, Sozialleistungen auf ‚Null‘ zu setzen“, sagt Lücke mit Blick auf Italien. Dort wurde im Sommer vielen das Bürgergeld per SMS gestrichen – was zu Protesten im Land von Regierungschefin Giorgia Meloni führte. In Deutschland haben anerkannte Flüchtlinge und darüber hinaus alle, die langfristig bleiben, bei Mittellosigkeit Anspruch auf dieselben Sozialleistungen wie Einheimische. „Das würde Einheimische ebenso wie Zugewanderte betreffen“, warnt deshalb Lücke zum italienischen Vorgehen. „So etwas schlägt niemand in Deutschland vor“, sagt Lücke.
Warum kommen Geflüchtete nach Deutschland? Experte sieht viele Faktoren
Mit Pull-Faktoren kennt der Migrationsforscher Lücke sich aus – und auch mit ihrem Gegenstück, den Push-Faktoren: Krieg, schlechte wirtschaftliche Aussichten, politische Verfolgung. „Vor allem in einigen westafrikanischen Länder haben viele junge Männer das Gefühl, in ihrem Land nicht in Würde leben zu können“, sagt er.
Aber Push- und Pull-Faktoren sind nur ein Ausschnitt des analytischen Rahmens. Sie helfen, Fakten zu sortieren – mehr nicht. So spielen auch Sprache, Rassismus, und Chancen auf dem Arbeitsmarkt im Zielland sowie der Wunsch, im Herkunftsland in der Nähe von Verwandten und Freunden zu leben, in jeden persönlichen Entschluss für oder gegen Migration hinein.
Migrations-Debatte dreht sich um nebensächliche Fragen
Einige aktuelle Studien (aus Dänemark, der Schweiz, Großbritannien) zeigen, dass in bestimmten Situationen nach deutlichen Kürzungen von Sozialleistungen oder Verschärfungen der Zuzugsbedingungen weniger Asylsuchende gekommen sind. Diese Studien hält Lücke grundsätzlich für valide. Aber sie zeigen beispielsweise nicht, wohin die Asylsuchenden stattdessen gegangen sind – ebenso wenig wie die Folgen von schlechteren Integrationsbedingungen für diejenigen, die trotzdem kommen.
Lücke ist Co-Direktor des MEDAM-Projekts, in dem sich Forschende mit der Asyl- und Migrationspolitik der EU befassen. Es läuft bereits seit 2016. Doch heute resümiert er: „Es bleibt schwierig, der Öffentlichkeit die komplexen Ursachen und Wirkungen von Migration und die Einflussmöglichkeiten der Politik zu vermitteln.“ Die öffentliche Debatte dominieren seiner Ansicht nach häufig eher nebensächliche Fragen.
Bezahlkarten? „Weiß nicht, wofür das gut sein soll“
Den Umgang mit den jetzt auf dem Migrationsgipfel geforderten Bezahlkarten zum Beispiel hält Lücke in erster Linie für eine pragmatische Frage. Er gibt zu bedenken, dass es bislang offenbar kein geeignetes Kartensystem gibt und dass die Behörden, die das System umsetzen müssten, es für unpraktikabel halten. „Ich weiß auch nicht, wofür das gut sein soll – außer es wäre eine Vereinfachung für die Beteiligten, aber das ist jedenfalls nicht das Anliegen der Befürworter.“
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Migrationsforscher empfiehlt Kooperationen mit Nicht-EU-Ländern
Doch wichtiger als das Reden über Pull-Faktoren ist laut Lücke einen Ausbau der Zusammenarbeit anstelle des herrschenden Asyl-Regel-Chaos – auch mit Nicht-EU-Ländern. Als gutes Beispiel nennt er das Nicht-EU-Mitglied Türkei (und als Negativbeispiel das Migrationsabkommen mit Tunesien). Die Zusammenarbeit mit der Türkei funktioniere seit vielen Jahren. Die Türkei erkennt – anders als die EU – den Syrerinnen und Syrern im Land sogar einen vorübergehenden Schutzstatus zu, wie ihn hierzulande Geflüchtete aus der Ukraine genießen.
Gleichzeitig haben die EU und ihre Mitgliedstaaten erheblich die Versorgung von Flüchtlingen in der Türkei mitfinanziert, während die Türkei deren irreguläre Weiterwanderung nach Griechenland und in die EU verhindert. „Mit Blick auf die weitere soziale und wirtschaftliche Integration der Flüchtlinge in der Türkei wäre einiges mehr zu machen“, urteilt Lücke zugleich.
Natürlich habe nicht jeder Mensch das Recht, nach Deutschland zu kommen und sich hier niederlassen, betont der Migrationsforscher: „Das würde weder wirtschaftlich noch politisch funktionieren.“ Deutschland habe zwar derzeit viel irreguläre Einwanderung, aber ins Verhältnis zur Bevölkerungsgröße gesetzt, seien die Zahlen in vielen EU-Mitgliedstaaten ähnlich – bei durchaus unterschiedlichen Sozialleistungen. (frs)