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„Kurs der Mitte“ nach EU-Wahl: NRW-Ministerin Neubaur warnt ihre Partei vor „grüner Klientelpolitik“
VonPeter Sieben
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Florian Pfitzner
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NRW-Vizeministerpräsidentin Mona Neubaur (Grüne) spricht über den BVB-Deal mit Rheinmetall, ihre persönliche Zeitenwende und die harte Schlappe ihrer Partei bei der Europawahl.
Berlin – Im Kaminzimmer der nordrhein-westfälischen Landesvertretung in Berlin hängt neben der deutschen und der NRW-Flagge die der Europäischen Union. Die Grünen liegen nach der Europawahl mit einem Ergebnis von 11,9 Prozent auf einem für sie frustrierenden vierten Platz. „Wir müssen offensichtlich eine Menge Vertrauen zurückgewinnen“, sagt Mona Neubaur, Wirtschaftsministerin und Vizeministerpräsidentin in Nordrhein-Westfalen.
Die fußballbegeisterte Grünen-Politikerin, 1977 im bayerischen Pöttmes geboren, lebt seit ihrem Studium in Düsseldorf und ist glühender Fortuna-Fan. Vor wenigen Jahren ist sie noch gegen Rheinmetall auf die Straße gegangen, im Gespräch mit IPPEN.MEDIA zeigt sie nun ein gewisses Verständnis für den BVB-Deal mit dem Rüstungskonzern. Zugleich sei „die Situation paradox“. Paradox schien einigen auch die Bildung einer schwarz-grünen Koalition im Industrieland Nordrhein-Westfalen – mehr Gegensatz geht ja kaum, oder?
Frau Neubaur, Sie haben beim NRW-Fest in Berlin angeregt mit Kanzler Olaf Scholz gesprochen. Worum ging‘s?
Wir haben über das industrielle Herz Europas gesprochen. Damit Nordrhein-Westfalen die erste klimaneutrale Region in der EU werden kann, brauchen wir nicht nur Innovationen für den Klimaschutz, sondern auch die Unterstützung des Kanzlers und der Ampelkoalition. Wir tragen gemeinsam Verantwortung. Deshalb war es gut, dass wir auch solche Anlässe nutzen, um uns ganz informell auszutauschen.
Am Tisch saß auch CDU-Ministerpräsident Hendrik Wüst. Wäre Ihr Koalitionspartner in Nordrhein-Westfalen aus Ihrer Sicht ein geeigneter Scholz-Nachfolger?
Rheinmetall-Deal: Neubaur ermutigt BVB zu kritischem Dialog mit Fans
Ich arbeite gerne mit dem Ministerpräsidenten zusammen. Und ich meine, er macht seinen aktuellen Job auch gern.
Das entscheidet Borussia Dortmund und nicht die Politik. Der BVB wird das abgewogen haben. Wichtig wird sein, dass ein Fußballverein wie Borussia Dortmund nach einer Entscheidung dieser Tragweite mit den organisierten Fans im kritischen Dialog bleibt. Wie ich den BVB kennengelernt habe, gilt diese Mitsprache.
Na ja, viele der organisierten Fans werfen der Geschäftsführung Geldgier vor. Im Finale der Champions League stand auf einem Banner der Ultras: „Rheinmetall: Mit dem Fußball zum Saubermann-Image?“ Was sagen Sie?
In der Tat ist die Situation paradox. Es ist wichtig, in diesen Zeiten ein Signal für den Frieden zu senden – so wie es die Spieler von Borussia Dortmund damals mit dem „No War“-Banner getan haben. Gleichzeitig müssen wir klar haben, dass es die Rüstungsindustrie braucht, um Frieden und Freiheit zu verteidigen. Damit gehe ich nicht leichtfertig über pazifistische Haltungen hinweg, sondern stelle mich der Zumutung, dass man in dieser sehr schwierigen Situation eben beide Seiten sehen sollte.
Seine Mitteilung hat der BVB mit „taking responsibility“ betitelt, „Verantwortung übernehmen“. Pumpt sich der Verein etwas zu sehr auf?
Sportvereine leisten einiges für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Damit meine ich Profiklubs genau wie kleine Amateursportvereine. Wenn der BVB sich jetzt als gesellschaftliche Plattform für diese wichtige Diskussion anbieten will, sollte er sie auch mit den Fans suchen und dann auch wirklich in den kritischen Dialog eintreten. Ich bin gespannt, was dabei herauskommt.
„Der russische Angriff auf die Ukraine hat die Sicherheitslage in Europa dramatisch verändert“
Es gab Zeiten, da sind Sie gegen den Rüstungskonzern auf die Straße gegangen. Als Ministerin griffen Sie beim Spatenstich für ein Rheinmetall-Werk dann selbst zur Schaufel. War das Ihre persönliche Zeitenwende?
Mit der groß angelegten russischen Invasion der Ukraine hat sich die Sicherheitslage in der Welt dramatisch verändert. Dass es jetzt wieder Krieg in Europa gibt, hat auch bei mir persönlich einen nachhaltigen Perspektivwechsel ausgelöst – das gebe ich gerne zu. Demokratien müssen verteidigungsfähig sein. Demokratien brauchen Zähne. Meine persönliche Zeitenwende ist als Ministerin auch mit der Frage gepaart, wie wir uns schneller von fossilen Energien unabhängig machen. Das ist immens viel Arbeit, weil eben viel zu lange ignoriert wurde, dass wir aufgrund dieser fossilen Abhängigkeit erpressbar sind.
Wie geht die energiepolitische Zeitenwende in Nordrhein-Westfalen voran?
Der Bund und Wirtschaftsminister Robert Habeck haben für den Ausbau von Wind- und Solarenergie unglaublich viel getan. Berlin hat in den vergangenen rund zweieinhalb Jahren eine stabile Grundlage gelegt, die es auch in Nordrhein-Westfalen einfacher hat werden lassen, die Erneuerbaren auszubauen. Es ist ein wesentlicher Standortfaktor in einem Industrieland, Energie mit planbaren Kosten zur Verfügung zu stellen. Dieses Ziel ist in NRW klar hinterlegt.
„Die Zusage von Thyssenkrupp muss gelten“
Thyssenkrupp holt sich einen Investor für seine Stahlsparte ins Haus. So soll die Transformation hin zu einer Industrieproduktion auf Basis von Wasserstoff gelingen. Der Bund und das Land NRW unterstützen den Konzern mit Milliarden. Ist der Einstieg eines ausländischen Investors da nicht ein fatales Signal?
Die Zusage von Thyssenkrupp, in Duisburg grünen Stahl zu produzieren, muss gelten. Wir sind als Land mit der größten Einzelförderung unserer Geschichte mit in die Verantwortung gegangen – gemeinsam mit dem Bund unterstützen wir mit rund zwei Milliarden Euro den Bau einer Direktreduktionsanlage, die einen der Hochöfen des Stahlwerks in Duisburg ersetzen soll. Ich habe keinen Zweifel daran, dass dieses Projekt wie geplant umgesetzt wird. Von dem grün erzeugten Stahl profitieren am Ende hunderttausende Beschäftigte in Nordrhein-Westfalen. Und es ist ein wesentlicher Beitrag zur CO₂-Reduktion sowie zum Wasserstoffhochlauf.
Es ist herausragend wichtig, dass der Konzern seine Ziele gemeinsam mit den Beschäftigten verfolgt. Deswegen sollte Daniel Křetínský nach seinem Einstieg bei Thyssenkrupp sicherstellen, dass die in Nordrhein-Westfalen traditionell gepflegte Mitbestimmung als Teil erfolgreichen Wirtschaftens gewahrt bleibt.
Sie arbeiten in Nordrhein-Westfalen seit genau zwei Jahren mit der CDU zusammen. Was zeichnet Ihre schwarz-grüne Koalition aus?
Konstruktivität und ein gemeinsames Ziel. Wir arbeiten im Kabinett und in den Ministerien sicher nicht an jeder Stelle geräuschlos zusammen, zwischendurch kann es auch mal anstrengend werden (lacht). Wir reichen uns am Ende aber immer die Hand und suchen nach tragfähigen Kompromissen. Das liegt auch ganz maßgeblich am Gestaltungswillen, den wir Grüne an den Tag legen. Wir sind uns gemeinsam mit der CDU in Nordrhein-Westfalen darüber einig, die erneuerbaren Energien so weit hochzufahren wie möglich. Unser Ziel ist, NRW zur ersten klimaneutralen Industrieregion Europas zu entwickeln. Wir sind in einem Lauf, aber es ist noch ein weiter Weg.
Ablehnung der AfD: „Ein starkes Signal für den Wirtschaftsstandort“
Die AfD hat in den landesweiten Umfragen ordentlich zugelegt, seitdem die schwarz-grüne Koalition regiert. Sehen Sie einen Zusammenhang?
Die Umfrageergebnisse der AfD sind leider bundesweit erschreckend hoch. Auch die Ergebnisse der Europawahl und der Kommunalwahlen im Osten sprechen für sich. Unsere Aufgabe als Landesregierung ist, dass wir unseren Weg konstruktiv weitergehen. Das heißt, die Probleme der Menschen zu sehen, anzuerkennen und eben zu lösen.
Der Präsident von Unternehmer NRW, Arndt Kirchhoff, sagt, die AfD sei eine Gefahr für die Demokratie. Evonik-Chef Christian Kullmann bezeichnet die AfD als „eine braun durchwirkte Partei“. Sehen Sie deutsche Konzerne in der Verantwortung, klare Kante gegen Rechtsextremismus zu zeigen?
In erster Linie ist das eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Ich bin den beiden, die Sie genannt haben, aber sehr dankbar für ihre deutliche Sprache. Einen solch klaren politischen Kompass braucht es in Zeiten wie diesen. Nach den Enthüllungen des Recherchenetzwerks Correctiv zu den Deportations-Plänen der AfD habe ich Industrie- und Handelskammern, Wirtschaftsverbände und Unternehmensvertreter nach Düsseldorf eingeladen, um über diese Frage zu sprechen. Wir waren uns einig, dass wir für die wehrhafte Demokratie in unserem Land einstehen müssen. Dazu gehört auch, ihren Beschäftigten zu vermitteln, was auf dem Spiel steht, wenn man – aus welchen Gründen auch immer – eine rechtsextreme Partei wie die AfD wählt. Diese klare Haltung ist auch ein starkes Signal für den Wirtschaftsstandort Nordrhein-Westfalen, weit über den Europawahltermin hinaus. Es wäre nicht nur demokratisch, sondern auch ökonomisch eine Bankrotterklärung, würde man der AfD zur Macht verhelfen.
Schlappe bei Europawahl: „Nicht die Zeit, Sündenböcke zu suchen“
Nationalradikale und extrem rechte Parteien wie die AfD haben bei der Europawahl trotzdem zugelegt. Ihre Partei muss hingegen die höchsten Verluste verkraften. Welche Konsequenzen sollten die Grünen daraus ziehen?
Ich will nicht lange drum herumreden: Das Europawahl-Ergebnis ist nicht gut für uns Grüne und sollte uns nachdenklich stimmen. Wir müssen offensichtlich eine Menge Vertrauen zurückgewinnen. Wie, das müssen wir in den kommenden Tagen und Wochen intensiv analysieren. Daran beteilige ich mich gern. Jetzt ist aber sicherlich nicht die Zeit, Sündenböcke zu suchen und sich so aus der Verantwortung für eine ehrliche Aufarbeitung dieses Wahlergebnisses zu stehlen. Für mich ist völlig klar, dass wir jetzt nicht unser Heil in der Nische grüner Klientelpolitik suchen sollten. Wir müssen weiter den Kurs der Mitte fahren und uns deshalb fragen, ob wir die Menschen dort mit unseren Politikansätzen und unserer Sprache noch ausreichend erreichen.
Schmerzen Sie vor allem die Einbußen unter den jungen Wählerinnen und Wählern?
Warum wir gerade bei jungen Wählern Vertrauen eingebüßt haben, muss zentraler Bestandteil unserer Wahlanalyse werden. Wie müssen wir unsere Kommunikation anpassen, welche Formate brauchen wir, welche Kanäle müssen neu gefunden werden – all diesen Fragen müssen wir uns stellen. Kern grüner Politik ist die Generationengerechtigkeit, das müssen wir besser erklären. Wir müssen auch darüber sprechen, warum die jungen Wähler sich in großer Zahl für eine rechte Partei entschieden haben. Eine Partei, die ja gerade die Zukunftschancen der jungen Menschen aufs Spiel setzt.
Sie haben zuletzt noch einmal betont, dass Deutschland auf Migrantinnen und Migranten angewiesen sei, um auf den Fachkräftemangel zu reagieren. In Umfragen äußern manche Unternehmer jedoch Vorbehalte. Was sagen Sie denen?
In der Integration durch Erwerbsarbeit liegen immens große Chancen. Ich erzähle gerne von den Erfolgsgeschichten, die ich in Wirtschaftsbetrieben höre. Diese Erfolgsgeschichten gibt es gerade in kleinen Handwerksbetrieben zuhauf. Die Suche nach Arbeits- und Fachkräften wird nicht leichter, die meisten Unternehmen haben das verstanden und reagieren entsprechend offen auf diese neue Realität.
Sie leben schon lange in Düsseldorf, aufgewachsen sind Sie aber im bayerischen Regierungsbezirk Schwaben. Welche süddeutsche Eigenschaft haben sie sich bewahrt?
Ich bin in der bayerischen Provinz aufgewachsen – das hilft, glaube ich, die Bodenständigkeit nicht zu verlieren. Eine Eigenschaft, die auch in Nordrhein-Westfalen sehr geschätzt wird. Menschen in NRW schreiben mir außerdem zu, dass ich das R anders ausspreche als die Rheinländer (lacht). Eine Sache kann Bayern natürlich wie kein anderes Land der Republik: Brezn.