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Israel will Rache für Iran-Angriff – „Alte Spielregeln gelten jetzt nicht mehr“
VonStephanie Munk
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Nach dem Angriff des Irans auf Israels wartet die Welt auf Netanjahus Reaktion. Wird der Konflikt vollends eskalieren? Ein Nahost-Experte sieht frühere Dogmen wanken.
Tel Aviv/Teheran – Mit dem Angriff des Irans auf Israel hat der Nahostkonflikt eine neue, gefährliche Wende erhalten. Israel will gegen den Iran zurückschlagen – in welcher Form, ist derzeit ungewiss. Dr. Andreas Böhm von der Universität St. Gallen sieht die bisherigen Gesetze des jahrzehntelangen Stellvertreterkriegs im Nahen Osten jetzt außer Kraft, wie er im Interview mit fr.de von IPPEN.MEDIA erklärte.
Herr Böhm, der Angriff des Irans auf Israels mit über 300 Drohnen, Raketen und Marschflugkörpern war einzigartig in der Geschichte. Wie hat das die Lage in der Region verändert?
Es herrscht jetzt eine neue Situation, die alten Spielregeln gelten nicht mehr. Vor dem Angriff Israels auf das iranische Konsulat in Damaskus herrschte ein Stellvertreterkrieg zwischen Israel und der vom Iran unterstützen sogenannten „Achse des Widerstands“ – also den Milizen im Libanon, Irak, Jemen und Syrien. Der Konflikt folgte bestimmten Regel, auch wenn beide Seiten versuchten, diese zu ihren Gunsten auszuweiten. Mit dem Angriff auf das Konsulat in Damaskus hat Israel erstmals Territorium attackiert, das völkerrechtlich dem Iran zuzurechnen ist.
Was hat das ausgelöst?
Der Iran hatte bislang einiges hingenommen, war nun aber gezwungen zu reagieren. Im Sinne wirksamer Abschreckung musste der Iran dabei einerseits Stärke demonstrieren, durfte andererseits aber Israel keine Gründe geben, direkt zurückzuschlagen. Denn die iranische Führung hat eigentlich kein Interesse daran, in einen größeren regionalen Konflikt hineingezogen zu werden.
Das heißt, die iranischen Geschosse auf Israel waren symbolischer Natur?
Zu einem guten Teil. Der Iran hat damit zwei Zeichen gesendet. Einerseits gingen Bilder des Angriffs um die ganze Welt: etwa von iranischen Raketen über der Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem, einem Heiligtum der islamischen Welt. Der Iran hat sich damit als eigentlicher Unterstützer der palästinensischen Sache positioniert. Andererseits wurden 99 Prozent der iranischen Geschosse abgefangen. Es gab kaum Schäden. Bemerkenswert ist aber: Eine Rakete schlug genau in der israelischen Air Base ein, von der der Angriff auf die iranische Botschaft in Damaskus ausging. Das war das zweite Zeichen des Irans, an Israel. Es lautet: „Passt auf, wir können euch auch härter treffen.“
Absprachen vor Angriff des Irans auf Israel? „Es wurde über Bande gespielt“
Das klingt so, als sei der Iran-Angriff genau kalkuliert gewesen. Denken Sie, es gab indirekte Absprachen im Vorfeld?
Ja, seit dem Angriff auf die iranische Botschaft in Damaskus vor zwei Wochen hat es sehr starke indirekte diplomatische Aktionen gegeben. Es wurde über Bande gespielt. Die USA und der Iran haben einander versichert, dass sie kein Interesse an einem größeren regionalen Konflikt haben. Zudem hat es ja relativ lange gedauert, bis die vom Iran abgeschossenen Drohnen in Israel angekommen sind – da war genug Zeit, um die Abwehr zu aktivieren und Flugzeuge loszuschicken.
Es wird nun quasi stündlich eine Gegenreaktion Israels erwartet. Was erwarten Sie von Netanjahu?
Dass Israel reagieren wird, ist klar. Netanjahu hat keine andere Wahl. Was genau passieren wird, ist aber relativ unkalkulierbar. Wie gesagt, es gibt jetzt keine festen Regeln mehr. Die USA haben Netanjahu deutlich gemacht, dass Israel auf eine weitere Eskalation verzichten soll, was ihn in ein großes Dilemma bringt. Einerseits braucht der die Unterstützung der USA, andererseits hätte er jetzt die Gelegenheit, dem Iran und der „Achse des Widerstands“ einen entscheidenden Dämpfer zu versetzen. Die Hardliner fordern jetzt einen Schlag gegen das iranische Atomprogramm. Netanjahu steht also vor dem Drahtseilakt, zurückzuschlagen, aber so, dass kein neuer regionaler Konflikt entsteht.
Was plant Netanjahu? Angriff aus Iran sorgt für Dilemma in Israel
Was wird Netanjahu also Ihrer Meinung nach tun?
Ich vermute, dass er die USA nicht offen desavouieren wird und daher eher iranische Stellungen in Syrien und dem Libanon attackieren wird. Und nicht den Iran direkt.
Jordanien hat sich am Samstag an der Abwehr der iranischen Geschosse beteiligt – an der Seite der USA und Israels. Es wird als historisch gewertet, dass ein arabischer Staat Israel militärisch zur Seite steht. Gib es die Chance auf eine Allianz arabischer Staaten in der Region an der Seite Israels?
Das ist der Traum mancher Strategen in Washington und Tel Aviv. Aber all diese Staaten – die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi-Arabien, Jordanien und Ägypten – stehen vor einem enormen Zwiespalt. Die politischen Führungen sehen einerseits die Lage realistisch und sind an vernünftigen Beziehungen zu Israel interessiert. Andererseits ist in der Bevölkerung die palästinensische Frage das Thema schlechthin. Das Fernsehen sendet dort 24 Stunden am Tag Bilder aus Gaza, die öffentliche Meinung ist sehr deutlich. In den arabischen Ländern ist der Krieg in Gaza ein unheimlich emotionales Thema, dass die jeweiligen politischen Führungen nicht einfach ignorieren können. Diese Länder verfolgen ihre eigenen Interessen – ein Teil davon ist die Lösung der palästinensischen Frage – und wollen nicht durch eine solche Allianz gebunden werden.
Vor dem Gaza-Krieg: Die Geschichte des Israel-Palästina-Konflikts in Bildern
Weitere Eskalation im Nahen Osten nach Irans Angriff? „Deutet einiges darauf hin“
Sehen Sie eine Eskalation des Konflikts in der Region kommen?
Es muss nicht notwendigerweise dazu kommen, aber strukturell deutet einiges darauf hin. Vor allem zwischen Israel und der Hisbollah im Libanon herrscht ein Eskalationspotenzial, das nur sehr, sehr schwer wieder zurückgefahren werden kann. Wir tendieren dazu, die einzelnen Konflikte in der Region isoliert zu sehen, aber sie hängen zusammen, und daher bräuchte es auch eine übergeordnete Lösung. Die Frage ist, wo diese herkommen soll. Vermutlich wird es nur eine Lösung geben, wenn sich sowohl die USA als auch China sehr intensiv einbringen. Denn nur China kann dem Iran – wie analog die USA Israel – Sicherheitsgarantien geben, ihn aber auch in die Pflicht nehmen. Das wäre nötig, um die Dynamik zu durchbrechen.