Fokus auf Pull-Faktor

„Wirkt wie ein Magnet“: Lindner will Migranten die Sozialleistungen kürzen – Kritik aus der Koalition

  • Marcus Giebel
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Die deutschen Politiker zerbrechen sich den Kopf, wie sich die Migrationszahlen senken lassen. Christian Lindner glaubt, die Lösung gefunden zu haben.

Berlin – Mit Kritik an der deutschen Migrationspolitik lässt sich gerade besonders einfach punkten. Auch Christian Lindner hat das heikle Thema längst für sich entdeckt. In der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“ betonte der FDP-Chef, er wolle in der Ampel-Koalition Leistungskürzungen für Asylbewerber einfordern. Für ihn es ist offensichtlich, dass der „Sozialstaat mit seinem im europäischen Vergleich sehr hohen Leistungen wie ein Magnet wirkt“.

Lindner und der Sozialstaat: Keine Leistungen für bestimmte Migranten?

Zuvor hatte der Finanzminister bereits gemeinsam mit Parteifreund und Justizminister Marco Buschmann in einem Gastbeitrag in der Welt (Artikel hinter einer Bezahlschranke) angeregt: „Unter ganz besonders engen Voraussetzungen wäre sogar eine Absenkung von Leistungen quasi auf ‚null‘ denkbar.“ Dies wäre etwa auch für Menschen denkbar, „denen humanitärer Schutz in dem für sie nach Dublin-Regeln zuständigen EU-Staat zusteht, die sich aber weigern, den Schutz dort in Anspruch zu nehmen“.

In diesen Fällen könnten die Leistungen „auf die Erstattung der notwendigen Reisekosten in den zuständigen Staat“ beschränkt werden. Nach den Dublin-Regeln hat ein Asylbewerber in dem EU-Land um Aufnahme zu bitten, in dem er EU-Territorium betreten hat – was aufgrund der zentralen Lage in den seltensten Fällen Deutschland sein dürfte.

Will die Sozialleistungen kürzen: FDP-Chef Christian Lindner mischt nun ebenfalls lautstark in der Migrationspolitik mit.

Lindner über Migrationspolitik: „Wollen unseren Sozialstaat nutzen - muss unterbunden werden“

In der ARD führte Lindner weiter aus: „Es gibt Menschen, die sind nicht auf der Flucht, jedenfalls nicht vor Bürgerkrieg oder vor Naturkatastrophen.“ Vielmehr würden diese Personen aus wirtschaftlichen Gründen in die Bundesrepublik kommen. „Die wollen in Deutschland möglicherweise auch gar nicht arbeiten, sondern unseren Sozialstaat nutzen. Und das muss unterbunden werden“, moniert der 44-Jährige.

Dieser Vorwurf ist nicht wirklich neu, kam bislang aber aus den Reihen der Union und der AfD. Und damit der Opposition. Nun schlägt also eine weitere Führungsfigur der Bundesregierung in dieselbe Kerbe. Nachdem Kanzler Olaf Scholz sich zuletzt im Spiegel dafür ausgesprochen hatte, „endlich im großen Stil abschieben“ und die irreguläre Migration begrenzen zu wollen.

Lindner sieht Länder in der Pflicht: Verantwortung bei den Migrationszahlen

Auch Lindners Plan beinhaltet die Hoffnung, schon den Zuzug von Asylbewerbern zu verringern. Wenn diese nicht nach Deutschland kommen, um ihre Wirtschaftskraft zur Verfügung zu stellen.

In die Pflicht nimmt er dabei auch die Länder. Denn diese würden – ebenso wie die Kommunen – die Leistungen bezahlen. Zwar habe er Verständnis für deren Forderungen, dass sich der Bund an den Kosten beteiligen solle: „Umgekehrt müssen sie aber Verantwortung dafür übernehmen, die Zahlen zu reduzieren.“

Lindner geht davon aus, dass sich die Asylbewerber-Zahlen senken ließen, wenn das Niveau des Asylbewerberleistungsgesetzes verantwortbar reduziert werde. „Es geht nicht um einen Schäbigkeitswettbewerb“, verdeutlicht er: „Aber so, wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben.“

Rhein über die Migrationspolitik: „Bezahlkarte bundeseinheitlich einführen“

Hessens Landesvater Boris Rhein nannte Lindners Vorstellungen in der Sendung „eigentümlich“. Der Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz hat den Eindruck, vom Bund solle es für die Länder demnach nur mehr Mittel geben, wenn diese im Gegenzug daran mitwirken würden, die Sozialleistungen zu reduzieren und die Zuwanderung zu begrenzen.

Laut dem CDU-Politiker bringen die Länder 17 bis 18 Milliarden Euro zur „Finanzierung der Kosten der Migration und der Flucht“ auf: „Der Bund beteiligt sich an diesen Kosten, jedenfalls in diesem Jahr, mit rund 3,75 Milliarden und im nächsten Jahr sollen es nur noch 1,2 Milliarden sein.“

Rhein zufolge hält der Bund den Schlüssel in der Hand, wenn es darum geht, die Flüchtlingszahlen zu steuern. Ein wichtiger Ansatz wäre seiner Meinung nach die Abkehr von Bargeldzahlungen: „Die Bezahlkarte macht aber natürlich nur dann Sinn, wenn sie bundeseinheitlich eingeführt wird.“ Zugleich verwies er auf die Konferenz der Länderchefs mit Scholz am 6. November, wenn die Migrationspolitik weiter diskutiert werden soll.

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Bezahlkarten für Asylbewerber? Grünen-Politiker warnt vor „Wettlauf rhetorischer Eskalation“

Ohnehin werden der SPD-Kanzler und der FDP-Vorsitzende auch die dritte Regierungspartei im Bunde abholen müssen. In der Welt warnte Grünen-Fraktionsvize Andreas Audretsch vor einem „Wettlauf rhetorischer Eskalation aus verschiedenen Richtungen“. Dieser helfe nicht weiter.

Bereits zuvor hatte er die Idee der Bezahlkarten als „Bürokratie-Irrsinn, den wir den Kommunen ersparen sollten“, kritisiert. Zudem forderte Audretsch: „Weniger Ideologie, mehr Pragmatismus ist jetzt gefragt.“

Pull-Faktoren bei der Migration: Expertin verweist auf weitere Komponenten

Inwiefern die nun auch von Lindner angeführten Pull-Faktoren überhaupt einen großen Einfluss auf Zahlen der Asylbewerber haben, ist umstritten. In einem MDR-Beitrag erklärt Birgit Glorius, Professorin für Humangeographie mit dem Schwerpunkt Europäische Migrationsforschung an der TU Chemnitz, dass Modelle zur Erklärung von Migration aus vier Komponenten bestehen würden „und Pull-Effekte ist nur einer davon. Andere sind Push-Effekte, also Faktoren, die Menschen überhaupt dazu bewegen, ihr Heimatland zu verlassen“.

Zu diesen Push-Faktoren könnten Krieg oder Armut im Heimatland zählen. Ebenso, ob schon Verwandte in einem Land leben oder wie gut die Arbeitsmöglichkeiten sind.

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Studien zur Migration: Kein Zusammenhang zwischen Flüchtlingszahlen und Sozialleistungen?

Laut Marcus Engler, Migrationsforscher am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung in Berlin, könnten die Studien die Annahme nicht bestätigen, dass Menschen dorthin gingen, wo die höchsten Sozialleistungen warten. Vielmehr sehe die Realität so aus: „Die Situation von Flucht ist häufig gekennzeichnet von sehr kurzfristigen Entscheidungen und auch von sehr eingeschränkten Möglichkeiten, überhaupt irgendwohin zu kommen.“

Verwiesen wird auf eine Studie, die tatsächlich einen Zusammenhang zwischen Sozialleistungen und Fluchtbewegungen suggeriert. So stellten Wissenschaftler der Princeton University bei einem Blick auf die Einwanderung nach Dänemark zwischen 1980 und 2017 fest, dass die Zahl der Geflüchteten zurückging, wenn die Sozialleistungen im Land gekürzt wurden.

Allerdings merken sowohl Engler als auch Tobias Heidland vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel an, dass bei dieser Arbeit andere Faktoren vernachlässigt worden seien. „Es wurden eben auch in anderen Bereichen, zum Beispiel beim Familiennachzug, Einschränkungen vorgenommen und die sind nicht berücksichtigt worden in der Studie“, moniert Heidland. (mg, mit dpa)

Rubriklistenbild: © Marcus Brandt/dpa

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