Sesselmänner als Türöffner?

Sorge vor Thüringens Kommunalwahl: AfD schielt auf neue Posten – wo es eng werden könnte

  • Florian Naumann
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Die AfD steht bei der Thüringer Kommunalwahl im Fokus. Das BSW wird wohl keine große Rolle spielen – dafür mischen mancherorts neue zweifelhafte Gruppen mit.

Jena/München – Das Wahljahr 2024 könnte für Demokratinnen und Demokraten noch den ein oder anderen Schreckmoment parat halten: Die Europawahl dürfte einen Rechtsruck bringen – und im Spätsommer stehen Landtagswahlen in drei Ostländern an, allen voran in Thüringen. Dort liegt Björn Höckes vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestufter Landesverband in den Umfragen vorne.

Nicht nur deshalb werden am Sonntag (26. Mai) außergewöhnlich viele Blicke auf den Thüringer Kommunalwahlen ruhen. Im Juni 2023 ist im Süden des Landes erstmals ein AfD-Politiker zum Landrat gewählt worden. Ob nun weitere vergleichbare Fälle folgen, ist mangels Umfragedaten schwer zu sagen. Doch Pierre Zissel, Experte für Politik auf Kreisebene der Uni Jena, sieht im Gespräch mit IPPEN.MEDIA Indizien für Chancen der Rechtsextremisten. Und im Raum steht eine weitere Frage: Könnte die AfD kommunale Vertreter nutzen, um sich vor der Landtagswahl als vermeintlich „normale“ Partei in Szene zu setzen?

Holt die AfD in Thüringen 2024 Bürgermeister- und Landrats-Posten? Indizien aus der Forschung

Anhaltspunkte für ein mögliches Wahlergebnis am Sonntag liefern nicht nur vielbeachtete Thüringer Landratswahlen wie im Landkreis Sonneberg, wo AfD-Mann Robert Sesselmann gewann – oder im Saale-Orla-Kreis wo der CDU-Politiker Christian Herrgott im Januar den Rechtspopulisten Uwe Thrum erst in der Stichwahl abfangen konnte. Zissel verweist auf Daten des „Deutschlandmonitors“ – ein Pilotprojekt, das unter anderem Zusammenhänge zwischen regionalen Kontexten und politischen Einstellungen beleuchtete. Etwa die Bedeutung eines Gefühls des „Abgehängtseins“.

Kommunalwahlen in Thüringen – was sagen die Umfragen?

Umfragen gibt es vor dem Urnengang am Sonntag nur sehr vereinzelt. Experte Zissel verweist auf vier Erhebungen des Instituts Insa für die Mediengruppe Thüringen – ihnen zufolge liegen in Erfurt und Gera die amtierenden Bürgermeister Andreas Bausewein (SPD) und Julian Vonarb (parteilos) vorne. „Aber die AfD ist ebenfalls im Bereich von 20 Prozent vertreten“, erklärt der Politikwissenschaftler. Bei den Kreistagswahlen in Greiz und im Eichsfeld führt die CDU vor der AfD – allerdings haben die Umfragen mit +/- 4,5 Prozent eine hohe statistische Schwankungsbreite. Zu den übrigen Kommunen gebe es keine seriöse Datenbasis.

Ein Ergebnis laut Studienmitarbeiter Zissel: „Da hat sich ziemlich klar herausgestellt, dass Menschen in ökonomisch strukturschwachen Regionen dieses Gefühl deutlich häufiger teilen“ – das könne für ländliche wie städtische Regionen gelten. Betroffene seien mit dem Funktionieren der Demokratie deutlich weniger zufrieden. Vor allem aber: „Menschen, die der AfD nachstehen, fühlen sich am ehesten abgehängt.“ Ähnlich erklärte auch ein Kollege Zissels schon 2021 IPPEN.MEDIA die Wahlerfolge der AfD in Thüringen.

Für die Thüringer Kommunalwahl könnte diese Erkenntnis eine Rolle spielen: Laut „Thüringen Monitor 2022“ fühlen sich Befragte in vielen thüringischen Regionen von der Politik und den Menschen im Rest des Landes abgehängt. Die regionalen Unterschiede seien gering, Schwerpunkte aber „zum Beispiel der Süden Thüringens mit dem Landkreis Sonneberg, Saalfeld-Rudolstadt, Saale-Orla-Kreis, aber auch der Kyffhäuser-Kreis im Norden“, sagt Zissel. „Und im Saale-Orla-Kreis, in Sonneberg haben wir ja bereits gesehen, dass die AfD Erfolge erzielen konnte.“ Ein städtisches Beispiel sei Gera – die einstige DDR-Bezirkshauptstadt habe viele Einwohner verloren und eine „kollektive Abstiegserfahrung“ durchgemacht. Schon vor der Kommunalwahl 2024 stellt die AfD dort den Stadtratsvorsitzenden.

Kommunalwahlen in Thüringen: Warum Wagenknechts BSW wohl noch keine große Rolle spielt

Nach Zissels Eindruck plakatiert die AfD im Kommunalwahlkampf etwa in der Landeshauptstadt Erfurt einmal mehr mit allgemeinen Slogans – darunter „es gibt nur zwei Geschlechter“ oder „unsere Stadt, unsere Regeln“. „Die AfD ist sich, glaube ich, selber bewusst, dass sie bei der Kommunalwahl nicht auf Personen spielen sollte“, sagt der Politologe, „sondern dass sie wirklich aus Ressentiments gegen Geflüchtete, gegen die Parteienlandschaft, vielleicht auch gegen das politische System an sich, gewählt wird, nicht etwa wegen konkreter kommunalpolitischer Themen.“ Andere Parteien setzten augenscheinlich eher auf ihre lokalen Kandidaten.

Kaum Konkurrenz wird die AfD vom BSW bekommen. Bei der Landtagswahl wird wohl auch Sahra Wagenknechts neue Partei eine große Rolle spielen – möglicherweise sogar als Mehrheitsbeschaffer. Das Institut Infratest dimap taxierte es in einer Umfrage für den MDR im März auf 15 Prozent. Am Wochenende ist die Lage laut Zissel anders. „Das BSW ist bei der Kommunalwahl noch so gut wie gar nicht präsent.“ Ein Grund: Wagenknechts Bündnis habe (noch) nicht die nötige Mitgliederzahl, um in der Fläche präsent zu sein.

AfD bekommt extreme Konkurrenz in Gera – Stichwahlen vielerorts wohl entscheidend

Unterdessen könnten der AfD zumindest lokal erste weitere extrem-gesinnte Gruppen Stimmen streitig machen. In Gera etwa seien „Akteure aus dem offenkundig rechtsextremen Spektrum präsent“, sagt Zissel: Dort gebe es sehr aktive „Montagsspaziergänger“, die erst mit der Corona-Politik, dann gegen die Unterstützung der Ukraine und die Unterbringung von Geflüchteten mobilisiert hätten. „Aus diesem Milieu gibt es jetzt auch einen Oberbürgermeisterkandidaten, Yves Berlinghoff, der nach einigen Hin und Her dann doch für die Wahl zugelassen wurde, und neben vier weiteren bei der Wahl antritt.“

Dort wie anderenorts könnte es letztlich auf eine mögliche Stichwahl am 9. Juni ankommen, meint Zissel. Viele Spitzenpositionen in Thüringens Kommunalpolitik könnten zwischen „Liberal-Konservativ“ und „Rechts-bis-Rechtsextrem“ vergeben werden.

Thüringens Landtagswahl bleibt offene Frage – „normalisiert“ sich die AfD mit Sesselmännern?

Direkten Rückschluss auf die Thüringen-Wahl werden die Ergebnisse der Kommunalwahl am Sonntag so oder so wohl nicht liefern, erklärt Zissel: Gerade in kleinen Gemeinden träten überwiegend lokale Listen an – zugleich sei das Wahlverhalten oftmals stärker personenorientiert.

Denkbar scheint aber ein anderer Effekt der Kommunalwahl auf die Landtagswahl: Dass sich die AfD über scheinbar harmlose Lokalpolitiker „normalisieren“ will. Zissel sagt auf Nachfrage jedenfalls: „Sesselmann zum Beispiel tritt augenscheinlich nicht als Demagoge auf.“ Zugleich könnten etwa Landräte schon qua der Beschränkungen ihres Amt die Demokratie nicht aus den Angeln heben. Möglich scheint: Was einige Protestwähler enttäuschen könnte, könnte andere Wähler in falscher Sicherheit wiegen. (fn)

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