Russland ignoriert Problem vorerst

„Gar kein Interesse“ an Kursk? Experte erklärt Putins Strategie – und die AKW-Warnungen

  • Florian Naumann
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Wann reagiert Putin auf die Situation in Kursk? Einem Experten zufolge verfolgt Russland zunächst andere Pläne – und könnte später vor Problemen stehen.

Auch fast einen Monat nach Überschreiten der Grenze hält sich die ukrainische Armee in der russischen Oblast Kursk – und dass Putins Streitkräfte der Operation ein Ende bereiten, ist laut Militärexperte Nico Lange nicht abzusehen. Russland scheine an einer Rückeroberung im Moment „gar kein Interesse zu haben“, sagt er im Gespräch mit IPPEN.MEDIA.

Ukraine hat sich in Kursk „stabilisiert“: Russland drohen „hohe Verluste“

Dahinter könnte Kalkül stecken, meint der Senior Fellow der Münchner Sicherheitskonferenz. „Russland greift weiter an vielen Frontabschnitten in der Ukraine an“, betont er. „Ich habe ein bisschen den Eindruck, Russland will erst in der Ukraine noch so weit wie möglich vordringen und sich erst danach mit Kursk beschäftigen.“ Aktuell sei ein „Dualismus“ zu beobachten: Die Ukraine habe Erfolg in Kursk; dafür sei die Lage im Donbass für Kiews Armee „schwierig“.

Ungeachtet dessen sei ein militärischer Konter in der Oblast Kursk für Russland kein leichtes Unterfangen. „Die Ukraine ist nicht nur weit vorgedrungen, sondern hat sich dort auch stabilisieren können. Das heißt etwa: die Flanken sichern, Brücken zerstören“, erläutert Lange. „Wenn Russland sich jetzt darauf konzentrieren würde, das zurückzuerobern, wäre das sehr aufwändig und auch mit hohen Verlusten verbunden.“

Ein Foto der ukrainischen Armee zeigt eine zerstörte Brücke in der Region Kursk – wie reagieren Wladimir Putin und Minister Andrei Beloussow (re.)?

Sorge um AKW Kursk: Experte Lange erwartet keine Kämpfe – „Man kann da nicht mit dem Auto hinfahren“

Nüchtern blickt der Experte auf russische Warnungen vor einer Eskalation am Atomkraftwerk Kursk. Einen Vorstoß zum AKW sei für die Ukraine „gar nicht machbar“, sagte Lange IPPEN.MEDIA. Das Kraftwerk befinde sich 70 Kilometer tief im Landesinneren: „Man kann da ja nicht einfach mit dem Auto hinfahren, man müsste auf breiter Front dahin vordringen. Das halte ich für nicht realistisch.“

Eher handle es sich bei diesem Szenario um eine „Erfindung“ von Beobachtern. Der Kreml habe ein Interesse daran, im Ukraine-Krieg „immer wieder Themen in den Diskurs einzubringen, die irgendetwas mit Schlagwort ‚nuklear‘ zu tun haben“, erklärte Lange. „Weil man weiß, dass die Medien, aber auch die politisch Handelnden bei uns immer sehr sensibel auf die Wort ‚Atom-‚ oder ‚Nuklear-‘‚ reagieren.“ Zuletzt hatte allerdings auch der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde, Rafael Grossi, vor Gefahren gewarnt. Ein Grund ist die Bauweise des AKW, die jener des Kernkraftwerks in Tschernobyl ähnelt.

Kursk bringt Ukraine Vorteil bei Verhandlungen: „Etwas, das sie einbringen kann“

Klar urteilt Lange indes mit Blick auf Wladimir Putins viel beschworene „roten Linien“. Nach dem Angriff auf Kursk werde nicht mehr wie zuvor eine Attacke auf russisches Territorium, sondern auf die Städte Moskau und St. Petersburg als Anlass für eine Eskalation bezeichnet. Die „rote Linie“ hat sich beim Überschreiten also offenbar zurückverschoben. Das lasse den Schluss zu, „dass diese roten Linien eigentlich keine sind“.

Lange sieht Vorteile für die Ukraine durch das Unterfangen in Kursk. Sie habe durch den Überraschungseffekt, die Kampfhandlungen auf russischem Gebiet und die Kriegsgefangenen – unter denen viele Wehrpflichtige sind – ihre Verhandlungsposition verbessert. „Nun glaube ich nicht, dass man Land für Land tauschen kann, aber wenn es jetzt zu Gesprächen kommt, hat die Ukraine auf jeden Fall eine bessere Verhandlungsposition und etwas, das sie einbringen kann“, sagt er.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte am Montag (2. September), der Vorstoß in Kursk verlaufe nach Plan, die Ziele würden erreicht. So seien etwa mehr als 600 russische Soldaten gefangen genommen worden. Putin verwies am selben Tag auf hohes „Tempo“ bei seiner Offensive im Donbass. Die ukrainischen Truppen in Kursk nannte er „Banditen“. (Florian Naumann)

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