Um Ihnen ein besseres Nutzererlebnis zu bieten, verwenden wir Cookies.
Durch Nutzung unserer Dienste stimmen Sie unserer Verwendung von Cookies zu.
Weitere Informationen
Vorwürfe gegen Netanjahu: Kalkül wichtiger als Befreiung der Hamas-Geiseln?
VonBedrettin Bölükbasi
schließen
Netanjahus Beliebtheit sinkt seit Beginn des Kriegs. Das liegt laut Fachleuten aus Israel an den rechtsextremen Partnern des Premierministers.
Tel Aviv – Im Krieg mit der radikalislamischen Hamas im Gazastreifen nennt Israel immer wieder zwei Hauptziele seiner Offensive: Die vollständige Zerstörung der Hamas sowie die sichere Rückkehr von Geiseln, die nach dem blutigen Angriff der Terrorgruppe vom 7. Oktober 2023 nach Gaza entführt worden waren.
Doch so wie es scheint, hat sich in den letzten Wochen ein drittes Ziel der israelischen Regierung beziehungsweise von Premierminister Benjamin Netanjahu herauskristallisiert: Sein politisches Überleben als Regierungschef von Israel. Doch dieses Ziel zu erreichen und sich gleichzeitig auf die Kriegsziele zu konzentrieren sowie ein Gleichgewicht innerhalb der komplexen politischen Verhältnisse in Israel aufrechtzuerhalten, erweist sich als schwierig.
Krieg in Israel: Politisches Überleben Netanjahus als neues Kriegsziel
In einer Analyse der liberalen und oft regierungskritischen Zeitung Haaretz wird ihm vorgeworfen, der Fortbestand seiner Koalition käme für Netanjahu an erster Stelle. Der Aspekt, der Netanjahu das Leben innerhalb dieser Koalition sehr schwer macht, ist dabei der rechtsextreme Flügel. Man könnte dies gewissermaßen als Wurzel allen Übels beschreiben.
Denn mit rechtsextremen Personen wie etwa dem Minister für Nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir oder Finanzminister Bezalel Smotrich lässt sich nur schwer verhandeln. Sie stellen radikale Forderungen, wollen etwa die komplette Einnahme und Kontrolle von Gaza durch Israel, den Wiederaufbau israelischer Siedlungen in Gaza nach dem Vorbild des Westjordanlands sowie die Migration von Palästinensern aus Gaza in andere Länder. Ihre Äußerungen und Forderungen setzen Netanjahu immer wieder unter Druck.
Gegen die Pläne und Wünsche des rechtsextremen Spektrums protestieren nicht zuletzt die USA oder moderate Vertreter Israels wie der ehemalige Außen- und Premierminister Yair Lapid. Auch Netanjahu selbst betont eigentlich immer wieder, man werde sich nach dem Krieg nicht in die zivilen Angelegenheiten des Gazastreifens einmischen. Einen finalen Vorschlag macht er zwar nicht, stellt aber klar, dass die Vorstellung der rechtsextremen Minister nicht Anwendung finden wird.
Krieg gegen die Hamas: Offenbar „Frustration“ bei Verhältnis zwischen USA und Israel
Beim Krieg in Israel ist Netanjahu auf die Hilfe der USA angewiesen, militärisch, aber besonders auch diplomatisch. Die USA haben Ende 2023 bereits Waffen und Munition für den Krieg geliefert, der laut dem israelischen Militär das gesamte Jahr über laufen könnte. Inmitten der Genozid-Vorwürfe gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof ist die diplomatische Unterstützung aus den USA von großer Bedeutung.
Allerdings: Die Unterstützung ist nicht grenzenlos, sondern ganz im Gegenteil droht sie abzunehmen. In einem Bericht des US-Nachrichtenportals Axios unter Berufung auf US-Beamte hieß es, Präsident Joe Biden sei immer stärker frustriert über Netanjahu. „Die Situation ist schlimm und wir stecken fest, die Geduld des Präsidenten geht aus“, sagte ein US-Beamter dem Portal. Ein weiterer Beamter sprach von „immenser Frustration“.
Dem Bericht zufolge ist der Grund für die Frustration, dass Netanjahu den US-Forderungen, die das Leben für die Palästinenser in Gaza und im Westjordanland erleichtern sollten, nicht nachkommen will. Die Ursache dafür ist wiederum die Teilhabe rechtsextremer Politiker an der Regierung. Denn sie fordern einen harten Umgang mit den Palästinensern, was sich nicht mit den Forderungen der USA an Israel deckt.
Krieg in Israel: Biden und Netanjahu sprechen seit längerem nicht miteinander
Das wirkt sich anscheinend uch auf das persönliche Verhältnis zwischen Biden und Netanjahu aus. Seit fast einem Monat haben die beiden Männer kein Telefongespräch mehr geführt, wie Axios berichtet. Als Biden beim letzten Gespräch im Dezember von Netanjahu forderte, Steuergelder der Palästinenser im Westjordanland freizugeben, lehnte Netanjahu ab. Darauf soll Biden das Telefonat mit den Worten „Das Gespräch ist beendet“ abgebrochen haben.
Die rechtsextremen Minister üben öffentlich keinerlei Zurückhaltung gegenüber den USA. Als Biden zuletzt die Siedlungsstrategie von Israel im Westjordanland kritisierte und Israel dabei „als Teil des Problems“ bezeichnete, erntete er Protest von Ben-Gvir. Die Debatte um Siedlungen ist besonders heikel, da die Rechtsextremen den gleichen Vorgang auch in Gaza fordern. „Ich bewundere die USA wirklich, aber bei allem Respekt, wir sind kein Stern auf der US-Flagge“, schrieb der Minister für Nationale Sicherheit im Kurznachrichtendienst X (ehemals Twitter).
Chris Van Hollen, ein demokratischer Senator, gab gegenüber Axios an, derzeit höre Netanjahu mehr auf das, was seine ultranationalistischen Minister sagen würden, anstatt US-Präsident Biden Gehör zu schenken. Die USA würden zwar Israel verteidigen, doch Israel zeige der Biden-Regierung „an jeder Kreuzung den Finger“.
Frustration in den USA über Israel: Rechtsextreme Minister fordern radikale Maßnahmen
Frustriert ist die US-Regierung auch deshalb, da Israel bislang keine bedeutende und finale Nachkriegsstrategie präsentiert habe. Die Diskussionen laufen zwar, bislang aber ohne konkrete Ergebnisse. Grund dafür soll wieder einmal der rechtsextreme Flügel sein. Die USA wollen eine erneute und permanente Besetzung von Gaza durch israelische Truppen verhindern. Stattdessen fordert Washington und der moderate Flügel in Israel eine Übernahme durch die Palästinensische Autonomiebehörde, die zunächst noch „reformiert“ werden solle.
Die Ultranationalisten aber würden den Streifen lieber zu israelischen Territorium machen wollen. So sei laut Finanzminister Smotrich das Problem, dass in Gaza zwei Millionen Palästinenser leben würden. Gäbe es etwa nur 100.000 bis 200.000 Palästinenser, so würde dies die Probleme beheben, meint Smotrich laut Haaretz. Denn die zwei Millionen Bewohner in Israel würden mit Hass auf Israel leben und darauf abzielen, den Staat Israel zu zerstören. Weniger Einwohner würden somit eine kleinere Gefahr bedeuten, wenn es nach Smotrich geht.
Rechtsextreme Minister in Israel: Netanjahu kämpft um politische Zukunft
All das zeigt: Der rechtsextreme Flügel wird für Netanjahu zu einem immer größeren Problem. Er blockiert Fortschritte, die ein Ende des Kriegs in Israel herbeiführen könnten und sorgt für Spannungen mit den USA. Wieso aber kann der Premierminister seine Koalitionspartner nicht in die Schranken weisen und hört auf sie? Die Antwort ist einfach: Er braucht sie. Netanjahus Regierungskoalition besitzt im Parlament nur noch eine hauchdünne Mehrheit. Die Popularität von Netanjahu sowie der Stimmanteil seiner eigenen Partei und seiner Koalition nehmen seit Beginn des Krieges ständig ab.
Wenn er seine Regierung fortsetzen und weiter an der Macht bleiben will, darf er Ben-Gvir und Smotrich, die kein Blatt vor den Mund nehmen, nicht verärgern. Frustriert sind dabei nicht nur die USA, sondern auch die israelischen Bürger. Einer jüngsten Umfrage der Zeitung Maariv zufolge sinkt der Anteil der Israelis, die an einen Sieg gegen die Hamas glauben. Gleichzeitig steigt der Anteil der israelischen Bürger, die Neuwahlen fordern, laut dem US-Sender CNN auf 70 Prozent. Es ist fast schon sicher, dass Netanjahu diese Wahl verlieren würde.
Daher decken sich die Interessen der Rechtsextremen und Netanjahu eigentlich in dem Punkt, dass sie den Krieg fortsetzen wollen. Denn wenn Netanjahu die Sicherheitsblamage vom 7. Oktober wiedergutmachen und das Vertrauen des Volkes wiedergewinnen will, dann muss er liefern. Bislang gibt es keine allzu großen Fortschritte trotz drei Monaten Krieg. Mehr als 130 Geiseln befinden sich noch in den Händen der Hamas. Militärische Rettungsoperationen scheiterten laut CNN, zudem wurden drei Geiseln versehentlich von israelischen Soldaten erschossen. Gideon Sa‘ar, ein Minister im Kriegskabinett, sagte gegenüber dem israelischen Militärradio GLZRadio, von einer Zerstörung der Hamas sei man noch weit entfernt.
Vor dem Gaza-Krieg: Die Geschichte des Israel-Palästina-Konflikts in Bildern
Krieg in Israel: Errungenschaften Israels stehen vor „Erosion“
Netanjahu ist also zwischen mehreren Fronten gefangen. Würde er eine moderatere Position einnehmen, würde er sein politisches Überleben riskieren. Daher ist es nahezu Tabu für ihn, den Forderungen von Kriegskabinett-Ministern wie Benny Gantz oder Gadi Eisenkot nachzukommen, Verhandlungen mit der Hamas zu erwägen, um die Geiseln zu retten. Das würde bedeuten, dass er einen Sieg der Hamas akzeptieren und ein wichtiges Kriegsziel nicht erfüllen könnte. Hält er sich weiterhin auf der Linie seiner rechtsextremen Minister, dann droht er die USA weiter zu verärgern. Wegen der radikalen Art könnten außerdem diplomatische Bestrebungen zur Befreiung von Geiseln scheitern.
Hinzu kommen weitere Probleme, die sich bei einer Fortsetzung des Israel-Krieges verschärfen dürften. Laut dem Sender Reshet 13 warnte Generalstabschef Herzi Halevi, Israel benötige dringend eine Ausgangsstrategie für den Gazastreifen. Ohne eine derartige Strategie stehe eine „Erosion“ der bisherigen Errungenschaften gegen die Hamas bevor. „Wir müssen vielleicht in Bezirke ziehen, wo wir die Zusammenstöße für beendet erklärt haben, und erneut operieren“, warnte er demnach. Auch weitere israelische Beamte sagten, man befürchte einen Wiederaufbau der Hamas im Norden des Gazastreifens.
Kritik an Netanjahu: „Er hat nur einen Plan für sein politisches Überleben“
Die schwierige politische Situation von Netanjahu verhinderte bisher, dass eine derartige Strategie formuliert werden konnte. Er muss sich entscheiden, was ihm wichtiger ist: Seine politische Zukunft oder die Kriegsziele, dabei besonders die Befreiung der Geiseln. Aus der israelischen Politik kommt immer stärkere Kritik. Oppositionschef Lapid kritisierte auf X (ehemals Twitter), es sei von Beginn an falsch gewesen, ohne eine Strategie in den Krieg zu ziehen.
Der Abgeordnete der liberalen Partei Yesh Atid, Merav Cohen, schrieb ebenfalls im Kurznachrichtendienst, das Fehlen einer Nachkriegsstrategie bringe die Errungenschaften der israelischen Armee in Gefahr. „Aber Netanjahu hat Angst vor Ben-Gvir und Smotrich“, so Cohen. Ähnlich äußerte sich die Vorsitzende der israelischen Arbeiterpartei Awoda, Merav Michaeli: „Vom ersten Tag an haben wir gesagt, dass wir einen politischen Plan haben. Aber Netanjahu hat nur einen Plan für sein politisches Überleben.“ Die Geiseln könnten nicht in Gefahr gebracht werden, „damit er überlebt“. Die Politikerin forderte in ihren Aussagen Neuwahlen. (bb)