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Nahost-Experte Yaron: Die ganze Bevölkerung ist mobilisiert für diesen Krieg
Gil Yaron (50) war viele Jahre Nahost-Korrespondent. Inzwischen leitet er ein Büro des Landes Nordrhein-Westfalen in Israel. Im Interview äußert er sich zu den Folgen des Hamas-Angriffs.
Fulda - Für die Fuldaer Zeitung und andere Medien hat Yaron viele Jahre aus dem Nahen Osten berichtet. Im Interview spricht Yaron über den Angriff der Hamas auf Israel und die Stimmung im Land.
Wie haben Sie den brutalen Angriff der Hamas auf Israel erlebt?
Ich wurde Samstagmorgen um halb sieben aus dem Bett geworfen. Eigentlich ist es um diese Zeit ruhig in Tel Aviv, doch dann heulten die Sirenen. Ich dachte zuerst an einen Fehlalarm. Das kommt ja ab und zu vor. Dann schaute ich aufs Handy, und da kamen schon die ersten Push-Nachrichten: „Massiver Raketenbeschuss des gesamten Landes.“ Zu diesem Zeitpunkt war noch unklar, wer uns eigentlich angreift. Ganz komisch wurde es gegen acht, neun Uhr, als die ersten Videos auftauchten, die zeigten, wie bewaffnete Hamas-Kämpfer sich auf israelischem Gebiet bewegen. Das hatte es ja noch nie gegeben und konnte sich auch niemand vorstellen. Wie sich jetzt herausstellt, war das eine Operation, die die Hamas länger als ein Jahr geplant hat.
Wie konnte das passieren, ohne dass es jemand in Israel gemerkt hat?
Es ist der Hamas ja nicht einmal gelungen, die Pläne vor den Israelis geheim zu halten. Die Israelis wussten genau, dass die Hamas die Stürmung von Armeebasen und Angriffe auf Dörfer vorhat. Es wurde ja auf Truppenübungsplätzen unter freiem Himmel dafür trainiert – und die Israelis haben es mit ihrer Luftaufklärung gesehen. Was die Israelis völlig falsch eingeschätzt haben, ist die Absicht und den Entschluss der Hamas.
Israel: Nahost-Experte sieht ganzes Land mobilisiert für Krieg gegen Hamas
Dennoch: Wir bewundern den Mossad als besten Geheimdienst der Welt, haben an die Undurchlässigkeit des Grenzzauns geglaubt, und die israelische Raketenabwehr wird „Iron Dome“, also Eisenkuppel genannt. Und dann lässt man sich von ein paar Terroristen überrollen?
Alles richtig, was Sie sagen. Am Ende gibt es eben kein unüberwindbares Hindernis. Das kennen wir doch in Deutschland vom Todesstreifen der DDR. Auch den haben Menschen überquert. Wir dürfen nicht vergessen: Die Hamas ist eine Organisation, der im Prinzip die Mittel und Ressourcen eines Staates zur Verfügung gestanden haben, um über lange Zeit solch einen Überraschungsangriff zu planen. Es ist ja Gott sei Dank nicht alles erreicht worden, was eigentlich geplant war.
Was war noch geplant?
Man weiß anhand von Plänen und Straßenkarten, die bei Terroristen gefunden wurden, dass die Hamas noch viel tiefer in israelisches Territorium eindringen wollte – 50 bis 60 Kilometer weit. Sie hatten vor, einen Luftwaffenstützpunkt in der Nähe der Stadt Be‘er Scheva anzugreifen. Die Hamas kannte genau die Schwachpunkte, und das waren die Kommunikations-Türme in den Basen. Die Terroristen haben als erstes die Kommunikationstechnik zerstört, damit die Soldaten keine Hilfe rufen und die Armee keine Übersicht hat, was läuft. Das haben sie sehr intelligent gemacht.
Wie haben Sie die Stimmung in der israelischen Bevölkerung erlebt – sind die Menschen in ihrem Schmerz gelähmt?
Nein, gelähmt ist man nicht. Die Reaktion ist eine andere: Man will etwas tun, jeder will etwas tun. Und dem Aufruf an die Reservisten folgten nicht 100 Prozent, sondern 140 Prozent. Es haben sich also nicht nur Leute zum Dienst gemeldet, die einberufen wurden, sondern viele Freiwillige. Und das sieht man überall: Schüler melden sich freiwillig, um Gräber auszuheben für die Opfer des Angriffs. Es wird gesammelt für die Soldaten, Reservisten, die Geflohenen – von Handtüchern über Mikrowellen und Besteck bis hin zu Spiel-Utensilien. Die ganze Bevölkerung ist mobilisiert für diesen Krieg.
Sie haben in Ihrer Zeit als Nahost-Korrespondent immer ausgewogen berichtet und sich damit auch viel Vertrauen bei Palästinensern erworben. Hat sich Ihr Weltbild durch den beispiellosen Angriff der Hamas verschoben?
Nein, keineswegs. Man muss zwischen Palästinensern und Hamas unterscheiden wie zwischen Deutschen und Nazis. Das Problem ist allerdings: Die Hamas hat großen Zuspruch in der Bevölkerung, in Meinungsumfragen über 30 Prozent. Und dieser Angriff, der aus der Sicht der Hamas ja überaus gelungen ist, gibt den Palästinensern einen großen Teil ihrer verlorenen Ehre zurück. Der Zuspruch für die Hamas wird dadurch und die massiven Bombardements der Israelis im Augenblick größer werden – genauso wie der Angriff auf Israel die tiefe Spaltung der Bevölkerung aufgrund der Justizreform der Regierung völlig vergessen gemacht hat. Dieser Effekt, dass man sich um die Fahne sammelt, wird auf beiden Seiten lange andauern. Und zu meiner Erfahrung als Nahost-Korrespondent hat auch immer gehört, dass ein Großteil der Palästinenser die Zwei-Staaten-Lösung als eine Etappe in der Befreiung des ganzen Landes betrachtet hat. Nur hat die Hamas im Gegenteil zur Fatah daraus nie einen Hehl gemacht.
Israel will die Hamas als Reaktion auf das Massaker komplett vernichten. Aber ist es hier nicht wie in der griechischen Mythologie, wo beim Ungeheuer Hydra zwei Köpfe nachwachsen, wenn man einen abschlägt?
Ich glaube, man kann die militärische Infrastruktur der Hamas erheblich verkleinern und ihr erheblichen Schaden zufügen. Aber die Hamas ist eine Idee. Und wenn du dieser Idee nicht den Nährboden nimmst, dann wird sich diese Idee weiter propagieren. Ich will es mal mit dem Islamischen Staat vergleichen: Der IS wurde militärisch besiegt, ist aber nicht tot. Die Idee lebt in manchen Kreisen weiter fort – und es gibt weiter Attentate. Und ähnlich wird es mit der Hamas sein. Man wird sie als Militärmacht zerschlagen können, aber die Israelis werden nicht ewig im Gazastreifen bleiben. Und sobald sie raus sind, werden viele Gruppen versuchen, die Hamas zu rekonstituieren.
Sie meinen, Israel wird den Gazastreifen nach der Zerschlagung der Hamas wieder verlassen und die zwei Millionen Bewohner ohne staatliche Strukturen sich selbst überlassen?
Ich will hoffen, dass man sich darüber Gedanken macht. Aber ich habe aus der Regierung nichts gehört, was in Richtung einer Lösung geht. Irgendwie konzentrieren sich aktuell alle darauf, die Hamas zu zerschlagen. Ich habe von niemandem etwas zu der Frage gehört, was am Tag danach passiert.
Für wie groß halten Sie die Gefahr, dass dabei ein „Flächenbrand“ entsteht, also auch andere Länder eingreifen werden?
Das ist ein wahrscheinliches Szenario. Ansonsten hätten die Amerikaner sicher nicht eine ganze Kampfgruppe mit Flugzeugträger ins östliche Mittelmeer entsandt. Die Israelis hätten auch keine 360 000 Reservisten eingezogen, wenn es nur darum ginge, den Gazastreifen zu erobern. Dafür braucht man nicht so viele. Man muss sich überlegen: Die 360.000 Reservisten kommen zu einer Armee von 430.000 Mann. Wir sprechen also von über einer Dreiviertelmillion Soldaten – um bereit zu sein für eine Eskalation im Westjordanland, für eine Eskalation innerhalb Israels, aber vor allem für einen Krieg gegen die Hisbollah und pro-iranische Milizen in Syrien.
Von wem geht Ihrer Meinung nach die größte Gefahr aus – vom Iran oder der Hisbollah?
Hauptsächlich von der Hisbollah. Ihr stellvertretender Führer hat gerade gesagt, er gibt den Israelis noch Stunden, ihre Angriffe in Gaza einzustellen, sonst würde die Hisbollah auch losschlagen. Sie zündelt ja die ganze Zeit schon, es kommt an der Grenze dauernd zu Zwischenfällen.
Wie könnte so ein Angriff der Hisbollah aussehen?
Die Hisbollah verfügt über 150 000 Raketen oder sogar mehr. Und der Großteil davon sind Mittelstreckenraketen, die Tel Aviv erreichen können und massiven Schaden anrichten. Wenn eine Rakete der Hamas in Tel Aviv einschlagen sollte, dann sind vielleicht die oberen zwei Etagen eines Gebäudes zerstört. Wenn eine Rakete der Hisbollah einschlägt, ist ein ganzer Häuserblock weg. Und nun stellen Sie sich vor, die Hisbollah würde einen Monat lang jeden Tag 2000 bis 3000 Raketen auf Israel abfeuern. Selbst wenn die israelische Raketenabwehr 90 Prozent abfangen sollte, wären die Folgen schwerwiegend. Zivilisten würden wahrscheinlich aus ihren Bunkern gar nicht mehr rauskommen.
In Europa gibt es viel Wirbel um pro-palästinensische Demonstrationen in vielen Städten. Wie nimmt man die Vorgänge in Israel wahr?
Vom israelischen Außenministerium wird inzwischen schon gewarnt, man solle im Ausland nicht mehr Kippa tragen, weil die durch den Anschlag eingebüßte israelische Abschreckung gepaart mit dem blinden Hass und der Wut wegen des Leids der palästinensischen Zivilbevölkerung in Gaza zu einem eskalierten Bedrohungspotential für Juden und Israelis in aller Welt führt. Deswegen wird jetzt die Sicherheit vor allem jüdischer Einrichtungen in aller Welt verstärkt.
Machen Sie selbst Erfahrungen damit?
Ja. Mir berichten jüdische Freunde in Deutschland, dass ihre Kinder in der Schule angepöbelt werden. Ein Freund sagte mir, seine Tochter wurde in der U-Bahn in Berlin angespuckt, weil sie Hebräisch gesprochen hat. Die Bedrohungen nehmen gerade enorm zu.
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Dr. Gil Yaron (50) wuchs in Düsseldorf auf und studierte nach dem Abitur Medizin. Anfang der 2000er Jahre arbeitete er in einem israelischen Krankenhaus, entdeckte dann aber seine Liebe zum Journalismus und wechselte den Beruf.
Von 2003 bis 2016 war er als Nahost-Korrespondent für zahlreiche Medien, darunter auch die Fuldaer Zeitung, tätig. Anschließend berichtete er exklusiv für die „Welt“ aus dem Nahen Osten. Yaron veröffentlichte auch mehrere Bücher. Seit 1. Januar 2020 ist er Leiter des Büros des Landes Nordrhein-Westfalen für Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung, Jugend und Kultur in Israel. Er lebt in Tel Aviv.
Das gesamte Interview mit Nahost-Experte Gil Yaron ist in Printausgabe und E-Paper der Fuldaer Zeitung vom 17. Oktober zu lesen. Hier erscheint eine gekürzte Fassung. Das Interview führte Redakteur Bernd Loskant.
In Fulda hat zuletzt ein Friedensgebet für das Heilige Land mit Bischof Michael Gerber am neu gestalteten Jerusalemweg stattgefunden.