Netanjahus Justizreform gescheitert

Pensionierte Höchstrichterin: Esther Chajut ist „die Frau, die Netanjahus Justizreform zu Fall brachte“

  • VonKilian Beck
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Netanjahus Justizreform scheint gescheitert. Höchstrichterin Esther Chajut wird von Israels Demokraten als „die Frau, die Israels Demokratie rettete“ gefeiert.

Jerusalem – Kaum war sie in Rente, wurde das wohl historischste ihrer Urteile öffentlich. Am Montag (1. Januar) verkündete das israelische Höchstgericht seine Entscheidung gegen ein Kernelement der umstrittenen Justizreform der ultrakonservativen Regierung von Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Vorsitzende des Gerichtshofes war damals die inzwischen 70-jährige Esther Chajut.

Netanjahus Versuch, das Gericht zu entmachten, sei „ein Angriff auf das Herz der israelischen Gründungserzählung“ als „demokratischer und jüdischer Staat“, schrieb Chajut laut der israelischen Tageszeitung Haaretz in ihrer Urteilsbegründung. In einer knappen Entscheidung von acht Richterinnen und Richtern für das Urteil und sieben dagegen, gab Chajut den Ausschlag.

Esther Chajut, pensionierte Vorsitzende des israelischen Höchstgerichts, gab den Ausschlag gegen Netanjahus Justizreform.

Bereits kurz nachdem die Regierung Netanjahus ihre Pläne verkündet hatte, dem Höchstgericht die Möglichkeit zu nehmen, Regierungshandeln für juristisch „unangemessen“ zu erklären, positionierte sich die damalige Höchstrichterin: Der Plan werde die Unabhängigkeit der Gerichte „zerschmettern“. Er sei „eine tödliche Wunde für die Unabhängigkeit der Richter und ihre Handlungsfähigkeit“, sagte Chajut laut ARD als Justizminister Jariv Levin seine Pläne verkündete. Der warf dem Gerichtshof nach einem Leak der Entscheidung Ende Dezember bereits vor, die Nation inmitten des Kriegs „in Streitigkeiten zu zerreißen“.

Nur noch 15 Prozent der Israelis wollen Netanjahu nach dem Krieg im Amt

Seit dem brutalen Überfall der Hamas-Terroristen auf mehrere Gemeinden in Südisrael, bei dem mehr als 1200 Israelis ermordet wurden, schwindet das Vertrauen der Bevölkerung in Netanjahu. Laut einer Umfrage der Forschungseinrichtung Israel Democracy Institute vom Januar wollen nur noch 15 Prozent der Befragten noch, dass Netanjahu nach Kriegsende im Amt bleibt. Die Angehörigen der Geiseln, sowie die Einwohner der vom Hamas-Terror betroffenen Kibbuze kritisieren ihn seit Monaten heftig. Zudem steht seit dem Angriff der Vorwurf im Raum, der rechtsextreme Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir habe große Teile des Militärs zum Schutz radikaler Siedler ins Westjordanland verlegt und so den Schutz an der Gaza-Grenze vernachlässigt.

Bilder zeigen, wie der Krieg in Israel das Land verändert

Massive Raketenangriffe aus Gazastreifen auf Israel
Am 7. Oktober 2023 feuern militante Palästinenser aus dem Gazastreifen Raketen auf Israel ab. Die im Gazastreifen herrschende islamistische Hamas, die von Israel, der EU und den USA als Terrororganisation eingestuft wird, hatte den Beginn einer „Militäroperation“ gegen Israel verkündet. © Hatem Moussa/ dpa
Massive Raketenangriffe aus Gazastreifen auf Israel
Nach einem Raketenangriff aus dem Gazastreifen ist Rauch aus einem Wohnhaus zu sehen.  © Ilia Yefimovich/ dpa
Israelischer Soldat mit Hund im Israel Krieg
Ein israelischer Soldat geht mit seinem Hund zwischen Autos in Deckung.  © Ohad Zwigenberg/ dpa
Israelische Polizisten evakuieren Frau und Kind im Israel Krieg
Israelische Polizisten evakuieren eine Frau und ein Kind von einem Ort, der von einer aus dem Gazastreifen abgefeuerten Rakete getroffen wurde. © Tsafrir Abayov/ dpa
Militante Palästinenser fahren im Israel Krieg mit einem Pickup, auf dem womöglich eine entführte deutsch-israelische Frau zu sehen ist.
Militante Palästinenser fahren mit einem Pickup, auf dem möglicherweise eine deutsch-israelische Frau zu sehen ist, in den Gazastreifen zurück. Die islamistische Hamas hatte mitgeteilt, ihre Mitglieder hätten einige Israelis in den Gazastreifen entführt. © Ali Mahmud/ dpa
Massive Raketenangriffe aus Gazastreifen auf Israel
Angehörige der Feuerwehr versuchen, nach einem Raketenangriff aus dem Gazastreifen das Feuer auf Autos zu löschen. © Ilia Yefimovich/ dpa
Menschen suchen in Trümmern nach Überlebenden nach massive Raketenangriffen aus Gazastreifen auf Israel.
Menschen suchen zwischen den Trümmern eines bei einem israelischen Luftangriff zerstörten Hauses nach Überlebenden.  © Omar Ashtawy/ dpa
Verlassene Stätte des Festivals Supernova nach dem Angriff der Hamas
Bei dem Rave-Musikfestivals Supernova im israelischen Kibbuz Re’im sterben rund 270 Besucher:innen. So sieht die verlassene Stätte nach dem Angriff aus.  © JACK GUEZ / AFP
Feiernde Palästinenser nach Angriff der Hamas auf Israel
Palästinenserinnen und Palästinenser feiern in Nablus nach der großen Militäroperation, die die Al-Qassam-Brigaden, der militärische Flügel der Hamas, gegen Israel gestartet haben.  © Ayman Nobani/ dpa
Hamas-Großangriff auf Israel - Gaza-Stadt
Das israelische Militär entgegnete mit dem Beschuss von Zielen der Hamas im Gazastreifen. Nach einem Angriff steigen bei einem Hochhaus in Gaza Rauch und Flammen auf. © Bashar Taleb/ dpa
Mann weint in Gaza bei Israel Krieg
Ein Mann umarmt einen Familienangehörigen im palästinensischen Gebiet und weint.  © Saher Alghorra/ dpa
Israelischer Soldat im Israel Krieg steht neben Frau
Am 8. Oktober beziehen israelische Soldaten Stellung in der Nähe einer Polizeistation, die am Tag zuvor von Hamas-Kämpfern überrannt wurde. Israelische Einsatzkräfte haben dort nach einem Medienbericht bei Gefechten in der an den Gazastreifen grenzenden Stadt Sderot mehrere mutmaßliche Hamas-Angehörige getötet. © Ilan Assayag/ dpa
Nach Hamas Großangriff - Sa'ad
Israelische Streitkräfte patrouillieren in Gebieten entlang der Grenze zwischen Israel und Gaza, während die Kämpfe zwischen israelischen Truppen und islamistischen Hamas-Kämpfern weitergehen. © Ilia Yefimovich/ dpa
Palästinensisches Kind in einer Schule, die im Israel Krieg als Schutz dient
Ein palästinensisches Kind steht auf dem Balkon einer Schule, die von den Vereinten Nationen betrieben wird und während des Konfliktes als Schutzort dient.  © Mohammed Talatene/ dpa

Esther Chajut: „Schlagendes Herz von Israels Verfassungsordnung schützen“

Das juristische Kernproblem ist die Frage, ob das Höchstgericht in Israel die Macht hat, auch sogenannten Grundgesetze, die das Parlament, die Knesset, beschließt zu kippen. Chajut bejahte dies klar: In diesem „seltenen Fall“, müsse man „zusätzliche Schritte“ gehen, um „das schlagende Herz von Israels Verfassungsordnung zu schützen“. Israels Verfassungsordnung besteht aus einer Sammlung von Grundgesetzen und höchstrichterlichen Entscheidungen, die ähnlich wie in Großbritannien in Einzelfallentscheidungen von Gerichten angewandt und weiterentwickelt werden.

Grundsätzlich sehen sich die Richterinnen und Richter am Höchstgericht in Jerusalem klar berechtigt, Grundgesetze aus dem Knesset für ungesetzlich zu erklären. Das entschieden sie laut der liberalkonservativen Jerusalem Post mit einer klaren Mehrheit von zwölf zu drei. Grundgesetze in Israel, schrieb die Politikwissenschaftlerin und Nahost-Expertin Lidia Averbukh im Fachportal Verfassungsblog, können mit einer einfachen Mehrheit in der Knesset beschlossen werden. Das gebe einer Regierung, die „Möglichkeit, das Recht grundlegend zu verändern“. Das begründe die besondere Rolle des Höchstgerichts.

Netanjahus Versuch Israels Höchstgericht „auszuweiden“ gescheitert

Mit der gescheiterten Justizreform, kommentiert die linksliberale Haaretz, sei Netanjahus Versuch, Israels höchstes Gericht „auszuweiden“ und den demokratischen Institutionen, „Fußfesseln anzulegen“, gescheitert. Esther Chajut, werde als „die Frau in die Geschichte eingehen, die Israels fragile und begrenzte Demokratie rettete — vorerst“, meinte Haaretz-Autor Anshel Pfeiffer. Die Jerusalem Post forderte Netanjahu und seine Regierung auf, ein „Jahr der Rücksichtlosigkeit und des Ruins“ zu beenden und seine Justizreform endgültig zu stoppen. Stattdessen solle er das „lächerliche Verfahren“ zum Beschluss von Grundgesetzen abschaffen und durch den Beschluss mit qualifizierten Mehrheiten zu ersetzen.

Benny Gantz, der Vorsitzende der „Partei der Nationalen Einheit“ und Mitglied des israelischen „Kriegskabinetts“.

Netanjahus aussichtsreichster Konkurrent, Kriegskabinettsminister Benny Gantz, sagte, „die Entscheidung muss respektiert werden“. Der liberale Oppositionsführer Jair Lapid pries das Urteil als „Heilung für ein Jahr voller Konflikt, das zum schlimmsten Desaster unserer Geschichte führte“. Die „Quelle der Stärke Israels“ seien Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Der Kommunikationsminister von Netanjahus Likud-Partei Ofir Akunis sagte der Jerusalem Post, die Entscheidung sei eine „Schande“ angesichts des Krieges, den das israelische Militär gerade in Gaza führt.

Höchstgericht muss Handeln, wenn „Kern israelischer Staatlichkeit“ bedroht ist

Die pensionierte Gerichtspräsidentin Chajut erklärte in ihrer Urteilsbegründung auch, warum sie dieses Urteil besonders während des Krieges spreche: Das Gericht müsse „seine Rolle erfüllen, auch in schwierigen Zeiten, wie diesen“. Insbesondere sei dies nötig, wenn „der Kern israelischer Staatlichkeit als demokratischer und jüdischer Staat“ bedroht sei. Pfeiffer schrieb für Haaretz, das Urteil habe die israelische Demokratie „vorerst“ gerettet, aber die knappe Mehrheit, zeige: Die israelische Gesellschaft sei weiterhin „tief gespalten“. (kb mit dpa)

Rubriklistenbild: © Menahem Kahana/Pool AFP/AP/dpa