Krieg in Israel

So soll die Hamas Israels Sicherheitsapparat mit ihrem Terror überrumpelt haben - Eine Analyse

  • VonMarkus Bickel
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Die Ausmaße des Terrorangriffs auf Israel sind noch nicht vollends absehbar. Wie konnte das passieren?

Tel Aviv. 300.000 Reservisten hat das Verteidigungsministerium in Jerusalem einberufen, um Vergeltung für den Überraschungsangriff aus dem Gazastreifen zu üben. Doch weder die Großmobilmachung noch eine mögliche Bodenoffensive können das Scheitern der israelischen Abschreckungspolitik gegenüber der Hamas überdecken.

Am Montagmittag funktionierte Iron Dome so wie es sollte: An der Grenze zum Libanon fing eine mobile Batterie des bodengestützten Abwehrsystems der Israel Defense Forces (IDF) elf Raketen ab, die aus dem nördlichen Nachbarland abgeschossen worden waren. Eine zwölfte landete in einem Feld unweit der israelischen Siedlung Shtula, ohne Schaden anzurichten. Nicht weit davon töteten IDF-Soldaten zwei über die Grenze gekommene bewaffnete Eindringlinge – der auch im Libanon aktive Hamas-Verbündete Islamischer Dschihad hatte so versucht, eine neue Front aufzumachen.

200 Kilometer weiter südlich von Shtula sah das Lagebild am Samstag anders aus, ganz anders: Innerhalb weniger Minuten feuerten Kämpfer der islamistischen Palästinensermiliz Hamas mehr als 2500 Raketen in Gemeinden rund um den Gazastreifen ab – und überforderten die Tamir-Interzeptoren von Iron Dome offenbar so sehr, dass das System auf das Sperrfeuer aus Gaza nicht schnell genug reagieren konnte. Zeitgleich durchbrachen Hamas-Kämpfer den Sperrzaun zum israelischen Kernland an etlichen Stellen, indem sie diesen zunächst mit Gleitschirmen überflogen und dann mit Sprengstoff zerstörten, ehe Bulldozer die Durchbrüche erweiterten.

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Cyber-Attacke auf Armeezentrale

Rund tausend Mann gelang es so zwischen sechs und sieben Uhr morgens, in 22 südisraelische Gemeinden und Kibbuzim einzudringen, teils mehr als zwanzig Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Eines ihrer ersten Ziele war das Hauptquartier des Gaza-Kommandos der israelischen Armee, dessen Kommunikationseinrichtungen mit einer Cyber-Attacke lahmgelegt wurde.

Damit war schnelle Gegenwehr vorerst ausgeschlossen, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf der Hamas-Führung nahestehende Quellen. Mehr als zwei Jahre lang soll dieses Vorgehen trainiert worden – und in enger Absprache mit Kommandeuren der iranischen Revolutionsgarden Ende September in Beirut beschlossen worden sein. Die größte Schwierigkeit für die Hamas-Führung dürfte darin bestanden haben, Details der Operation Al-Aqsa-Sturm bei der Weitergabe der Befehle zu verschleiern.

Fachleute glauben, dass Iron Dome nicht auf die Wirkung des neuen Hamas-Raketensystems Rajum vorbereitet war, sodass dem Artillerieangriff mit den 114-Millimeter-Geschossen das Vorrücken zu Lande und zu Wasser und in der Luft folgen konnte – wie aus dem Lehrbuch. Außerdem soll die Hamas kleine Drohnen eingesetzt haben, die Munition auf israelische Militärstellungen rund um den Gazastreifen abwarf. Armee und Polizei traf der Überfall von Hunderten Hamas-Kämpfern, die in Geländewagen und auf Motorrädern, sowie mit Gleitschirmen ausschwärmten, völlig überraschend.

Begünstigt wurde der Überfall durch das lange Netz an Tunneln, in die sich die Hamas-Führung zurückgezogen hat. Dort waren Ortung und Signalerfassung, wie sie die israelischen Nachrichtendienste betreiben, nicht möglich.

Größte Mobilmachung in der Geschichte Israels

Neben fehlender Aufklärung über die Angriffspläne lag das auch daran, dass der Angriff an einem Schabbat-Morgen stattfand, zumal am jüdischen Feiertag Simchat Tora. Das Trauma des Jom-Kippur-Kriegs von Oktober 1973, den syrische und ägyptische Truppen vor genau fünfzig Jahren ebenfalls an einem Samstagmorgen begannen, lebt dadurch wieder auf. Schlimmer noch: Jahrzehnte der Aufrüstung haben Israel offenbar nicht weniger verwundbar gemacht, auch wenn der Angriff am Wochenende nicht durch staatliche Armeen, sondern durch die semistaatlichen Einheiten der Hamas-Führung erfolgte.

Insofern hat Ministerpräsident Benjamin Netanjahu Recht, als er am Montag sagte, dass die israelische Gegenreaktion „den Nahen Osten verändern“ werde. Schon am Morgen des vierten Kriegstags stellt die bewaffnete Auseinandersetzung mit der Hamas eine Zäsur in der Geschichte der Konflikts dar: 800 Tote in dreißig Stunden auf israelischer Seite und mehr als 560 auf palästinensischer gab es noch nie. In den 33 Tagen des Zweiten Libanon-Kriegs 2006 verloren 1.500 Menschen ihr Leben, in den 44 Tagen Gaza-Krieg 2014 mehr als 2.200, darunter siebzig Israelis.

Auch Massaker wie das an den bis zu 260 Teilnehmenden eines Festivals nahe Re‘im dürften dazu führen, dass es in den kommenden Monaten zu einer grundlegenden Überarbeitung der israelischen Abschreckungsdoktrin kommen wird. Wechselnde israelische Regierungen hatten in der inzwischen 16 Jahre dauernden Abriegelung des Gazastreifens zuletzt darauf gesetzt, durch die Vergabe von Arbeitsvisa in Israel auf sozioökonomische Stabilität als Lockmittel für die Hamas zu setzen.

In dieser Strategie bestärkt wurde die israelische Regierung auch dadurch, dass die Hamas sich im Mai Raketenbeschuss israelischer Dörfer durch den Islamischen Dschihad nicht anschloss. Verteidigungsminister Joaw Galant und die Armeeführung um Generalstabschef Aviv Kochavi verleitete das offenbar zu der falschen Annahme, dass die Hamas an einem bewaffneten Konflikt nicht interessiert sei.

Verhandlungen über Einheitsregierung in Jerusalem

Diesen Trugschluss hat die Armeeführung nun korrigiert – die Mobilmachung von 300.000 Reservisten ist die größte in der israelischen Geschichte und deutet auf eine Bodenoffensive im Gazastreifen hin. „Der Preis, den der Gazastreifen zahlen wird, wird sehr hoch sein und die Realität für Generationen verändern“, sagte Verteidigungsminister Yoav Gallant am Montag in Ofakim, einer der angegriffenen Städte im Süden des Landes. Gallant kündigte die vollständige Abriegelung des Gazastreifen an: „Kein Strom, keine Lebensmittel, kein Gas, alles ist geschlossen. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und verhalten uns entsprechend.“

Regierungschef Netanjahu nahm derweil Verhandlungen mit dem früheren Verteidigungsminister und Oppositionsführer Benny Gantz über die Bildung einer Einheitsregierung auf. Der allerdings fordert, dass Netanjahus rechtsextremen Verbündete, Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich, bis zum Ende des Krieges ihre Funktionen als Minister für Nationale Sicherheit und Zuständiger für die Ziviladministration im Westjordanland ruhen lassen. Weder Ben-Gvir noch Smotrich haben in der Armee gedient.

Rubriklistenbild: © Oded Balilty / dpa

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