Experte ordnet ein
Kriminelle Strukturen und Debatte um „Clan“-Begriff: „Polizeiliche Darstellung ist irreführend“
VonPeter Siebenschließen
Experte Mahmoud Jaraba sagt, die Gesellschaft habe ein falsches Bild von sogenannten Clans: Hinter den Großfamilien steckten viel komplexere Strukturen.
Berlin – Wenn sogenannte kriminelle Clans und die italienische Mafia eines gemeinsam haben, dann ist es die Tendenz zur Mythosbildung. Zahlreiche Klischees und Legenden umwehen beide Kriminalphänomene.
Während die Mafia allerdings als recht gut erforscht gilt, gibt es relativ wenige Wissenschaftler, die sich explizit mit Clanstrukturen auseinandersetzen. Einer von ihnen ist Mahmoud Jaraba. Der Politikwissenschaftler forscht seit 2015 zu arabischen, türkischen und kurdischen Großfamilien, gilt als renommierter Kenner der Materie. Und er macht deutlich: Die Sicherheitsbehörden müssen ihr Bild von sogenannten Clans grundlegend revidieren. Denn diese funktionieren völlig anders, als bislang oft angenommen.
„Die polizeiliche Darstellung der Kriminalität aus ethnisch abgeschotteten Subkulturen ist irreführend“, sagte Jaraba jetzt bei einer Konferenz des Mediendienstes Integration in Berlin. Zwar lebten Teile der Großfamilien hinsichtlich bestimmter sozialer und kultureller Aspekte in der Tat in einer Art Subkultur. Aber dort, wo Angehörige der Familien Straftaten begehen oder es gar zu organisierter Kriminalität komme, könne gerade nicht von einer Abschottung gesprochen werden. „Im Gegenteil ist hier eine ausgesprochen starke Vernetzung in die Mehrheitsgesellschaft und mit anderen ausländischen Akteuren zu beobachten“, so der Wissenschaftler.
Clankriminalität: Verbindungen zu Geschäftsleuten und Anwälten
Demnach knüpfen Clan-Kriminelle nicht nur Verbindungen zu anderen kriminellen Gruppen, sondern auch zu Geschäftsleuten, Anwälten und einflussreichen Personen im Kulturbereich, um ihre kriminellen Aktivitäten zu erweitern. „Einige Mitglieder dieser kriminellen Netzwerke sind zudem äußerst aktiv auf Social-Media-Plattformen“, so Jaraba. „Durch regelmäßiges Posten von Bildern und Beiträgen zeigen sie sich, um ihre Netzwerke zu erweitern und potenzielle Partner oder Kunden anzuziehen.“
Das deckt sich mit den Beobachtungen der Sicherheitsbehörden. Laut dem Verfassungsschutz in NRW etwa verbünden sich neuerdings kriminelle Akteure der Szene mit radikalen islamistischen Salafisten. Gemeinsam drehen sie Videos, um bei TikTok vor allem junge Menschen anzusprechen.
Clan ist keine Einheit: Kriminalität nur innerhalb von Sub-Clans
Die öffentliche Fehlwahrnehmung liege allerdings auch daran, dass Clans oft als Einheit dargestellt würden, sagt Jaraba. Die Struktur der Großfamilien sei aber sehr viel komplexer und habe sich über die Jahrzehnte stark verändert. Vor hundert Jahren sei jeder Clan noch überschaubar gewesen, es habe eine zentrale Familienführung gegeben. „Heute sind viele Clans bis zu 15 Generationen alt“, erklärt der Politikwissenschaftler. „Sie haben sich in zahlreiche Sub-Kategorien ausdifferenziert.“
Der Begriff Clankriminalität
► Wenn die Rede von kriminellen Clans ist, sind in Deutschland oft kriminelle Mitglieder von Großfamilien mit kurdisch-libanesischen Wurzeln gemeint. Die meisten Menschen aus diesen Familien sind nicht kriminell. Wenige Subclans aber haben sich zu Gruppierungen zusammengeschlossen, die Straftaten im Bereich der organisierten Kriminalität begehen.
► Viele gehören den sogenannten Mhallami an, einer arabischstämmigen Volksgruppe. Ihre Vorfahren wurden nach dem Ersten Weltkrieg aus der Türkei vertrieben, kamen dann in den Libanon. Als dort Bürgerkrieg ausbrach (1975 bis 1990), flohen viele der Familien nach Deutschland.
► Als Staatenlose erhielten viele den Duldungsstatus, konnten keiner geregelten Arbeit nachgehen. Experten sehen in der Perspektivlosigkeit einen Grund dafür, dass sich Einzelne zu kriminellen Gruppierungen zusammengeschlossen haben.
► Wissenschaftler wie Mahmoud Jaraba sehen den Begriff „Clan“ in dem Zusammenhang kritisch. Aber: „Es hilft nicht, das Problem zu lösen, wenn wir über Begrifflichkeiten streiten.“ Wichtig sei, den Begriff differenziert zu verwenden und nicht auf eine ganze Großfamilie zu beziehen.
► Nach Auskunft der Innenministerien von Niedersachsen, Berlin und NRW gegenüber dem Mediendienst Integration, wird das Phänomen nicht grundsätzlich zur Organisierten Kriminalität (OK) gezählt. Experten sehen aber Tendenzen, dass einzelne kriminelle Gruppen sich stärker in Richtung OK entwickeln.
Im Arabischen gibt es Begriffe für die komplizierten Abstammungslinien: „Hamula“ meint den übergeordneten Familienzweig, „Fakhdh“ den Sub-Familienzweig und „Bayt“ schließlich den Sub-Sub-Familienzweig, dem meist bis zu hundert Personen angehören. „Die Angehörigen der Großfamilien kennen sich oft untereinander nicht, sondern pflegen enge Kontakte vor allem innerhalb ihres Bayt“, sagt Jaraba. Und wenn es zu kriminellen Netzwerkbildungen kommt, dann nur innerhalb solcher Sub-Sub-Clans.
Erst Diebstähle, dann Betrug, Erpressung und Drogenhandel
In den späten 1980er begannen manche von ihnen, Diebstähle zu begehen. Ein möglicher Grund: Viele Betroffene hatten über Jahre keine Arbeitserlaubnis, lebten in prekären Verhältnissen ohne Perspektive. Mit der Zeit schlossen sie sich zu Gruppen zusammen, die regelmäßig an Betrug, Erpressung, Geldwäsche, gewalttätiger Einschüchterung von Zeugen, Raub und dem Import und Vertrieb von Drogen beteiligt sind.
Wie gut organisiert die kriminellen Sub-Clans sind, zeigen die spektakulären Diebstähle aus dem Grünen Gewölbe in Dresden vor einigen Jahren oder der Raub der Goldmünze aus dem Berliner Bode-Museum. Kriminologisch sind sie durchaus als „familienbasierte Kriminalität“ einzustufen. „Die Charakteristika solcher Kriminalität: Die Familienmitglieder sind im In- und Ausland gut vernetzt“, erklärt Jaraba.
„Politik der 1000 Nadelstiche“ führt zu Stigmatisierung
Aber: „Die große Mehrheit der Angehörigen der Familien lehnt Kriminalität ab und wünscht sich eine gezielte und effektive Kriminalitätsbekämpfung“, betont der Experte. Die „Politik der 1000 Nadelstiche“, die zum Beispiel in NRW seit Jahren propagiert wird, führe unterdessen zu Stigmatisierung – weil alle Familienangehörigen über einen Kamm geschoren würden. „Dutzende meiner Interviews mit Familienmitgliedern zeigen, dass sie scharfe Kritik an den kriminellen Aktivitäten ihrer Familie üben und vom Staat fordern, konsequent gegen diese Personen vorzugehen. Aber eben auch nur gegen diese und nicht gegen die gesamte Familie.“
Rubriklistenbild: © Bernd Thissen/dpa
