Stéphane Séjourné, der Fraktionschef der liberalen Renew-Fraktion im Europaparlament.
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Stéphane Séjourné ist Fraktionschef der liberalen Renew-Fraktion im Europaparlament.

Analyse

Gegen Viktor Orbán: Europas Liberale ringen um gemeinsamen Kurs

  • VonTill Hoppe
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Die Liberalen stemmen sich gegen die drohenden Verluste bei der Europawahl und ein Erstarken der Europagegner. Doch sie sind in vielen Punkten uneins.

Stéphane Séjourné wählt deutliche Worte: „Das Risiko eines unregierbaren Europas ist real“, warnt der Fraktionschef der liberalen Renew-Fraktion im Europaparlament am Dienstag. Populisten und rechtsradikale Parteien könnten bei der Europawahl im Juni genug Sitze erringen, um ein handlungsfähiges Bündnis proeuropäischer Kräfte zu verhindern. Die von ihm angestrebte Fortsetzung der sogenannten Von-der-Leyen-Koalition aus EVP, Sozialdemokraten und Liberalen sei nicht gesichert, mahnt er.

Séjournés Renew-Fraktion könnte selbst zu den großen Verlierern eines möglichen Rechtsrucks gehören. EU-weite Auswertungen von Umfragen sagen ein halbes Jahr vor dem Urnengang voraus, dass die Liberalen von ihren aktuell 101 Sitzen zehn bis 20 verlieren könnten. Sowohl die Rechtsaußen-Fraktion ID als auch die nationalkonservative EKR könnten womöglich an der bislang drittgrößten Gruppe im Straßburger Parlament vorbeiziehen.

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Eigene Kandidaten für Kommission, Rat und Parlament

Noch aber hat der Europawahlkampf gar nicht begonnen. Um die Parteienfamilie auf die kommenden Monate und eine dezidiert proeuropäische Linie einzustimmen, hatte Séjourné am Dienstag die Spitzenkandidaten aus mehreren Mitgliedsländern zu einer Großveranstaltung nach Brüssel geladen. Wahlmanifest und das personelle Aufgebot für die zu vergebenen Top-Jobs auf EU-Ebene werden aber voraussichtlich erst eine Woche vor Ostern beschlossen, wenn mit der ALDE die größere der beiden liberalen Parteienfamilien zum Kongress nach Brüssel lädt.

Séjourné plädiert für ein selbstbewusstes Auftreten: Die Liberalen sollten eigene Kandidaten für die drei wichtigsten Posten aufbieten, die Spitzen von EU-Kommission, Europäischem Rat und Europaparlament, sagt er. Persönlichkeiten mit dem nötigen Format habe man.

Michel löst keine Begeisterung aus

Bei den Liberalen werden unter anderem die estnische Regierungschefin Kaja Kallas, der Luxemburger Ex-Premier Xavier Bettel und der scheidende Ratspräsident Charles Michel als Interessenten gehandelt. Kommissionsvize Margrethe Vestager, 2019 noch der Star im Spitzenteam für die Europawahl, werde hingegen wohl keine bedeutende Rolle mehr spielen, sagt ein gut informierter Liberaler.

Michel hatte am Wochenende seine Kandidatur für das Europaparlament angekündigt und damit Bewegung in den Personalpoker gebracht. Der frühere belgische Premier kann aber wohl nicht auf allzu große Sympathie im eigenen Lager zählen, sollte er sich erneut für einen der Topjobs in Stellung bringen. Seine Ankündigung erhöht aber den Druck auf Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, sich zu einer möglichen zweiten Amtszeit zu äußern.

Liberale Parteien vielerorts in der Defensive

Das Umfeld für die Liberalen ist alles andere als einfach: Die Mitgliedsparteien schwächeln in vielen Ländern, nicht nur in Deutschland. In Frankreich stellt der rechtsextreme Rassemblement National von Marine Le Pen in Europawahlumfragen die Partei von Präsident Emmanuel Macron deutlich in den Schatten. Ob die Berufung von Séjournés Lebenspartner Gabriel Attal zum neuen Ministerpräsidenten dem Macron-Lager neuen Schwung bringt, muss sich erst zeigen. In Spanien ist die Ciudadanos-Partei kollabiert, die aktuell noch sechs Abgeordnete stellt. Auch in den Niederlanden und den nordeuropäischen Mitgliedstaaten schneiden die liberalen Parteien derzeit nicht sonderlich gut ab.

Doch Séjourné zeigt sich kämpferisch. Er verweist etwa auf den Erfolg der Partei Polska 2050, die Teil der neuen polnischen Regierung von Ministerpräsident Donald Tusk ist. Auch in der Slowakei, Rumänien und Bulgarien erstarkten liberale Kräfte. Er sei optimistisch, genügend Sitze zu erhalten, um weiter die Rolle des „Königsmachers“ neben EVP und S&D spielen zu können, sagt Séjourné.

Dafür brauchen die Liberalen aber auch Erfolge in den bevölkerungsreichen Mitgliedstaaten. Die FDP setzt auf die Zugkraft ihrer Kandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die über pointierte Positionen viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Bei ihrem Auftritt in Brüssel teilte Strack-Zimmermann gegen Ungarns Premier Viktor Orbán aus und dessen Blockade bei der Unterstützung der Ukraine.

Italien: Parteien können sich nicht einigen

In Italien wiederum steht Renew aktuell mit nur zwei Abgeordneten fast blank da. Der frühere italienische Europastaatssekretär Sandro Gozi drängt die drei liberalen Parteien in Rom, sich auf eine Wahlliste zu einigen. „Viele Wähler wollen eine gemeinsame Liste, aber es ist eine Frage der Persönlichkeiten“, sagte er Table.Media. Eine Allianz der Italia Viva von Ex-Premier Matteo Renzi mit den anderen beiden Parteien könne acht bis neun Sitze erringen, glaubt der Abgeordnete, der für Macrons Liste Renaissance im Europaparlament sitzt.

Séjourné will zudem in der christdemokratischen Parteienfamilie wildern, insbesondere wenn EVP-Chef Manfred Weber nach der Wahl die Zusammenarbeit mit der rechten Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) vertiefen sollte. Dies könne einige Delegationen in der EVP-Fraktion dazu bewegen, sich Renew anzuschließen, so sein Kalkül.

Kein Dreierbündnis mit EVP und EKR

Für seine Fraktion schließt Séjourné eine formalisierte Zusammenarbeit in einem Dreierbündnis mit EVP und EKR aus, „selbst wenn wir eine Mehrheit hätten“. Um als Partner infrage zu kommen, müsse die Gruppe um Giorgia Melonis Fratelli d’Italia zunächst „ihr Haus in Ordnung bringen“, sprich: besonders problematische Mitglieder hinauswerfen. Wie anschlussfähig die EKR sei, werde sich speziell bei der in einigen Wochen anstehenden Abstimmung über den Asyl- und Migrationspakt zeigen.

Auch im eigenen Lager will Séjourné keine Zusammenarbeit mit Extremisten dulden. Sollte in den Niederlanden die liberale VVD von Mark Rutte mit dem Wahlsieger Geert Wilders eine Regierung bilden, müsste der Fraktionschef also Konsequenzen ziehen. Doch die jüngsten Signale aus der VVD deuteten nicht darauf hin, dass es in absehbarer Zeit zu einer Zusammenarbeit kommen werde, heißt es in der Renew-Fraktion.

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