Sorge vor Putins Rache
Aus Angst vor Russlands Rache? Nato lässt Ukraine warten – Experte warnt vor „Signal an Putin“
VonChristiane Kühlschließen
Die Ukraine wird wohl nicht so bald Nato-Mitglied. Das Bündnis fürchtet Rache Putins und die Beistandsgarantie nach Artikel 5. Ein Experte hält das für falsch.
Auf dem Nato-Gipfel in Washington wird die Ukraine viele Zusagen erhalten: Ein weiteres Jahr wird das angegriffene Land Waffen und Munition im Wert von mindestens 40 Milliarden US-Dollar erhalten, darunter mehrere Patriot-Raketenabwehrsysteme. Die Nato wird einen Sondergesandten in Kiew stationieren. Auch wird der Gipfel die bisher über das lose Ramstein-Format organisierten Waffenlieferungen institutionalisieren und damit „Trump-sicher“ machen: Der frühere und möglicherweise nächste US-Präsident ist kein Freund der umfassenden Waffenlieferungen an die Ukraine, stattdessen behauptet er, bald Frieden schaffen zu können.
Trotzdem wird die Nato der Ukraine auch dieses Jahr nicht das geben, was sie besonders dringend will: eine formale Einladung zum Beitritt. Schon 2008 hatte der Nato-Gipfel in Bukarest erstmals grundsätzlich eine Aufnahme der Ukraine beschlossen. Der Gipfel 2023 in Vilnius stimmte zwar dafür, den Beitritt Kiews zu beschleunigen, und gründete den Nato-Ukraine-Rat für Notfallsituationen. Doch einen Zeitplan für eine Einladung gibt es immer noch nicht. Der Aufnahme eines neuen Landes müssen die Mitglieder einstimmig zustimmen.
Nato-Beitritt der Ukraine: Keine Einigkeit der Mitglieder
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg wünschte sich kürzlich im Interview mit der dpa einen Beitritt der Ukraine bis spätestens 2034: „Ich hoffe sehr, dass die Ukraine ein Verbündeter sein wird.“ Stoltenbergs Vorgänger Anders Fogh Rasmussen und Selenskyjs Stabschef Andrij Jermak gehen noch weiter. Sie forderten in einem gemeinsamen Papier im Mai eine Beitrittseinladung auf dem Nato-Gipfel in Washington und einen Beitritt der Ukraine bis spätestens 2028, sofern Kiew die nötigen Bedingungen bis dahin erfülle. Auch fordern sie, das derzeit entstehende Netz bilateraler Sicherheitsabkommen zwischen der Ukraine und ihren Partnern, darunter auch Deutschland, in ein internationales Abkommen einzufassen.
Während die baltischen Staaten oder Polen schon länger auf einen raschen Beitritt der Ukraine drängen, treten neben den Russland-Freunden in Ungarn vor allem die USA und Deutschland auf die Bremse. So betont Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) immer wieder, dass aus seiner Sicht zunächst einmal der Ukraine-Krieg enden müsse. Doch genau diese Haltung könnte ein Kriegsende in weite Ferne rücken. Denn Präsident Wladimir Putin will einen Nato-Beitritt der Ukraine um jeden Preis verhindern – und dürfte nach dieser Logik auch ein Ende des Krieges gar nicht wünschen.
Ex-Nato-Botschafter der USA für baldigen Beitritt
„Wir müssen weiter die notwendige militärische Aufrüstung finanzieren, damit wir die Ukraine in eine Position der Stärke bringen. Dann sollten wir sie in die Nato aufnehmen“, fordert auch der Sicherheitsexperte und frühere Nato-Botschafter der USA Kurt Volker im Interview mit IPPEN.MEDIA. „Putin würde dadurch das Signal bekommen: Er kommt nicht länger davon. Doch wir neigen dazu zu sagen, dass wir beim Thema Nato-Beitritt gar nichts tun können, weil das einen globalen Krieg bedeuten würde. Das ist ein Signal an Putin, dass er so lange weitermachen kann, wie er will.“
Viele Nato-Mitglieder glauben, dass eine derzeitige Aufnahme der Ukraine aufgrund der Beistandsgarantie im Artikel 5 des Nato-Vertrags automatisch den Kriegseintritt der Allianz bedeuten würde – und fürchten die Rache Putins. Volker hält das für Unsinn. „Artikel 5 sagt ja nur, dass es im Falle eines Angriffs auf ein Nato-Mitglied eine Art kollektive Reaktion geben muss. Aber der Vertrag legt nicht fest, wie diese kollektive Reaktion aussehen soll.“ Nato-Mitglieder müssten also nicht zwingend Truppen an die Front entsenden.
„Wir sollten mit der Ukraine darüber sprechen, welche Möglichkeiten der Unterstützung es unter Artikel 5 in diesem Krieg gäbe“, sagt Volker. „Dazu gehören im Prinzip auch schon unsere großen Lieferungen von Ausrüstung und Trainingsmaßnahmen.“ Die Räumung von Seeminen im Schwarzen Meer durch Spezialisten der Nato könnte ebenfalls darunter fallen. Auch einzelne Nato-Soldaten sind zudem nach Auskunft aus Polen bereits als Berater in der Ukraine.
Stoltenberg sieht „Brücke zur Mitgliedschaft“ in Washington
Im vergangenen Jahr in Vilnius hatte ein frustrierter Selenskyj es als „beispiellos und absurd“ bezeichnet, „wenn weder für die Einladung noch für die Mitgliedschaft der Ukraine ein Zeitrahmen festgelegt wird“. Um so etwas in Washington zu vermeiden, wurden Selenskyj und seine Beamten dieses Mal über die Debatten unterrichtet. Stoltenberg sagte auf einer Pressekonferenz am Freitag, er und Selenskyj seien sich Anfang des Monats einig gewesen, dass die geplanten neuen Schritte der Staats- und Regierungschefs „eine Brücke zur Nato-Mitgliedschaft und ein sehr starkes Paket für die Ukraine auf dem Gipfel darstellen“.
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