Um Ihnen ein besseres Nutzererlebnis zu bieten, verwenden wir Cookies.
Durch Nutzung unserer Dienste stimmen Sie unserer Verwendung von Cookies zu.
Weitere Informationen
„Taksim ist überall“: Widerstand in der Türkei gegen Erdogan wächst
VonNail Akkoyun
schließen
Der Kampf um die Demokratie erreicht die Straßen der Türkei. Tausende protestieren in Istanbul gegen Erdogan und fordern Imamoglus Freilassung.
Update vom 30. März, 13.30 Uhr: Der inhaftierte Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu hat sich am Sonntag aus dem Gefängnis heraus an seine Landsleute gewendet und zur Einheit aufgerufen. „Diejenigen, die glauben, dass wir das Fest nicht feiern können, liegen völlig falsch“, hieß es in einer von seinen Anwälten auf X verbreiteten Mitteilung zum Zuckerfest am Ende des Ramadan. „Denn wir werden definitiv einen Weg finden, zusammen zu sein!“, so der Erdogan-Kontrahent.
Imamoglu-Proteste in Istanbul: Langfristig kann Erdogan den Widerstand in der Türkei nicht ignorieren
Erstmeldung: Ankara/Istanbul – Hunderttausende, die Opposition spricht gar von zwei Millionen. Die schiere Menge, die am Samstagabend in Istanbul gegen die Regierung von Recep Tayyip Erdogan und für eine Freilassung von dessen Konkurrenten Ekrem Imamoglu protestierte, steht für den Widerstand in der Türkei. Ein Widerstand, den der türkische Präsident langfristig nicht ignorieren kann – auch wenn er es bislang versucht.
Während sich in der Bosporus-Metropole eine der größten Kundgebungen in der Geschichte der Türkei ereignete, widmeten sich die inländischen Medien lieber anderen Themen. Der Spiegel verweist auf den Sender NTV, der das Erdbeben in Myanmar und Thailand thematisierte; auf CNN Türk lief derweil ein Beitrag zu den Spannungen zwischen Israel und der Türkei. Die Bevölkerung in der Türkei beging derweil den elften Protesttag in Folge.
Türkei: Tränengas, Pfefferspray und Gummigeschosse bei Protesten gegen Erdogan
Aufgerufen zu der Großkundgebung hatte die sozialdemokratische CHP-Partei, die Ekrem Imamoglu in der vergangenen Woche als ihren Präsidentschaftskandidaten nominiert hatte. Der 53-Jährige wird im Hochsicherheitsgefängnis Marmara in Istanbul festgehalten. Erdogan behauptet, die Inhaftierung von Imamoglu und mehreren seiner Mitarbeiter sei Teil einer unabhängigen Untersuchung und wirft der CHP vor, ein landesweites Korruptionsnetzwerk vertuschen zu wollen. Er drohte damit, weitere Korruption innerhalb der CHP aufzudecken, und kündigte ein hartes Vorgehen gegen die Proteste in der Türkei an.
Schon vor Tagen verboten Behörden die Proteste in der Türkei und gingen mit Tränengas, Pfefferspray und Gummigeschossen gegen die Menge vor. Es kam zu Straßenkämpfen zwischen Demonstrierenden und der Polizei – auch einen Tag vor dem Beginn des muslimischen Ramadanfests. Einschüchtern lassen will sich die Opposition aber nicht. „Taksim ist überall, Widerstand ist überall“, riefen die Demonstrierenden in Anspielung an die regierungskritischen Massenproteste auf dem gleichnamigen Platz in Istanbul im Jahr 2013.
Recep Tayyip Erdoğan: Der Weg zur Macht des türkischen Präsidenten
Proteste in der Türkei gegen Erdogans Regierung: „Wir stehen hinter Imamoglu“
„Ich habe keine Angst, ich habe nur ein Leben, ich bin bereit, es für dieses Land zu geben“, sagte eine 82-jährige Demonstrantin, die ihren Namen nicht nennen wollte, gegenüber der Nachrichtenagentur AFP. Imamoglu sei ein „ehrlicher Mann, er ist derjenige, der die türkische Republik retten wird“, fügte sie hinzu.
Als Speerspitze dienen aber vor allem die jungen Menschen in der Türkei. Studierende und die Generation Z treibt es in Massen auf die Straßen. Sie sei demonstrieren gegangen, um für ihre Heimat zu kämpfen, sagte der AFP etwa die 17-jährige Demonstrantin Melis. Die Protestierenden würden sich niemals von „Gewalt oder Tränengas“ abhalten lassen. „Wir stehen hinter unserem Bürgermeister, Imamoglu“, sagte Ergun über die Proteste in der Türkei.
Imamoglu wandte sich in einer Botschaft, die von CHP-Chef Özgür Özel vorgelesen wurde, an die jungen Demonstrierenden. „Die Jugendlichen stehen in der vordersten Reihe, weil sie am meisten Angst um ihre Zukunft haben“, hieß es darin. „Es geht hier nicht um Ekrem Imamoglu, sondern um unser Land, um Gerechtigkeit, Demokratie, Freiheit (…) Recht und Gesetz.“
Kampf um die Demokratie in der Türkei: Imamoglu wendet sich an seine Gefolgsleute und Erdogan
Der CHP-Chef warnte vor der Abschaffung der Demokratie in der Türkei. Er sei bereit, „acht, zehn Jahre im Gefängnis zu verbringen“, sagte er im Interview mit der französischen Zeitung Le Monde. Denn sollten die Proteste in der Türkei jetzt nicht fortgesetzt werden, werde Erdogan dafür sorgen, dass es bald keine ernstzunehmenden Wahlen mehr in der Türkei gebe, warnte Özel. Er kündigte regelmäßige Proteste an – jeden Mittwoch in Istanbul und jeden Samstag in einer anderen türkischen Stadt.
Auch Imamoglus Ehefrau Dilek, die Kinder des Paares und die Eltern des Politikers waren unter den Demonstrierenden in Istanbul. Viele von ihnen waren am Morgen auf von der CHP gecharterten Fähren über den Bosporus zum Versammlungsort gefahren. Sie trugen türkische Flaggen und Porträts von Republik- und CHP-Gründer Mustafa Kemal Atatürk.
Imamoglu selbst hatte sich bereits am Freitag in einem Gastbeitrag der New York Times zu Wort gemeldet. „Weil er verstanden hat, dass er mich nicht an den Urnen schlagen kann, greift der Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan, zu anderen Mitteln“, schrieb der beliebte Oppositionspolitiker. Mit ihm habe Erdogan „seinen wichtigsten politischen Gegner verhaftet“. Für die Vorwürfe gegen ihn – Korruption, die Führung eines kriminellen Netzwerkes und Unterstützung der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) – gebe es keine glaubhaften Beweise, fügte er hinzu.
Imamoglu-Proteste in der Türkei: Foltervorwürfe gegen Erdogans Behörden
Laut türkischem Innenministerium wurden seit Beginn der Proteste fast 1900 Menschen festgenommen, unter ihnen mehrere Journalistinnen und Journalisten. So wurde auch der schwedische Journalist Kaj Joakim Medin der Tageszeitung Dagens ETC wegen Terrorvorwürfen verhaftet. Die Behörden beschuldigen ihn der Mitgliedschaft in einer bewaffneten terroristischen Organisation sowie der Beleidigung von Präsident Erdogan. Das berichtete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu.
Der Polizei werden vonseiten der Opposition Foltervorwürfe gemacht. In einer ersten Anklageschrift fordert die Istanbuler Staatsanwaltschaft bis zu drei Jahre Haft für 74 der Demonstrierenden wegen der Teilnahme an verbotenen Versammlungen, wie der Staatssender TRT berichtet. Innenminister Ali Yerlikaya behauptete auf X, es seien Verbindungen zu zwölf verschiedenen Terrororganisationen bei den Festgenommenen festgestellt worden. Die meisten der Festgenommenen sind Anwälten zufolge Studenten.
Neuwahl in der Türkei wäre für Erdogan sehr riskant
Imamoglus Partei CHP fordert nun eine vorgezogene Neuwahl des Staatsoberhaupts. Diese können vom Parlament mit einer Drei-Fünftel-Mehrheit beschlossen werden. In dem Fall könnte auch Erdogan erneut kandidieren. Bei regulären Wahlen wäre das dagegen nicht möglich, weil die Verfassung in dem Fall maximal zwei Amtszeiten vorsieht. Dass Erdogans Partei dem aktuell zustimmt, gilt angesichts der Stimmung im Land aber als unwahrscheinlich. (nak mit AFP)