Nach Messerangriff in Solingen

„Begriffliche Entgleisungen“ in der Migrationsdebatte vor Wahlen in Sachsen und Thüringen

  • Felix Busjaeger
    VonFelix Busjaeger
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  • Kilian Beck
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Die Sachsen-Wahl und Thüringen-Wahl finden diesen Sonntag statt. Der Messerangriff in Solingen und eine neue Migrationsdebatte werfen ihre Schatten voraus.

Dresden/Erfurt – Nach dem Messerangriff in Solingen blickt die deutsche Politik erschüttert auf die Ereignisse und sucht fieberhaft nach Antworten. Nach dem mutmaßlich islamistischen Anschlag kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eine Arbeitsgruppe mit der Union zu Migrationsfragen an. Diese soll „sehr zügig“ ihre Arbeit aufnehmen. Solingen, Fragen zur Migration und hastige Politiker-Statements werfen indes ihre Schatten auch auf den Osten der Republik: Vor der Sachsen-Wahl und der Thüringen-Wahl instrumentalisieren rechte Parteien den Messerangriff für ihren Wahlkampf und setzen auf populistische Stimmungsmache. Mehrere demokratische Politiker ordnen die jüngsten Entwicklungen nun gegenüber IPPEN.MEDIA ein.

Solinger Messerangriff wird vor Wahlen in Sachsen und Thüringen zum politischen Spielball

Kurz vor der Sachsen-Wahl und der Thüringen-Wahl wurde der Messerangriff in Solingen zum politischen Spielball im Endspurt des Wahlkampfes. Unter anderem die AfD versuchte, das Thema für ihren Wahlkampf zu nutzen. Björn Höcke teilte bei X eine Kachel mit einem blutigen Messer und einer Wahlaufforderung, zudem kursiert im Netz der Hashtag „Höcke oder Solingen“. Johannes Kiess, Soziologe und stellvertretender Direktor am Else-Frenkel-Brunswik-Institut für Demokratieforschung, bestätigt gegenüber IPPEN.MEDIA, dass die extreme Rechte den Anschlag von Solingen zu instrumentalisieren versucht. Doch der Messerangriff in Solingen zwingt auch die demokratischen Parteien zu Positionierung bei der Migrationsdebatte.

Nach dem Messerangriff in Solingen ist in Deutschland eine neue Debatte um Migration ausgebrochen. Diese überschattet auch die Sachsen-Wahl und Thüringen-Wahl. (Symbolbild)

„Es braucht mehr Ordnung in der Migration, ein stärkeres Augenmerk auf die Bekämpfung des Islamismus und Verbesserungen bei den Abschiebungen. Verschärfungen gehören dazu. Ein Asylsystem funktioniert nur, wenn auch die Rückführung klappt“, sagte Gyde Jensen (FDP) auf Nachfrage von IPPEN.MEDIA. Sie würde den Vorschlag ihrer Bundestagsfraktion unterstützen, die Sozialleistungen für ausreisepflichtige Personen auf den Prüfstand zu stellen. „Aber ich halte nichts von Forderungen anderer, die nur der Profilierung dienen und rechtlich nicht umsetzbar sind. Solche Rhetorik […] verunsichert Menschen, die sich in Deutschland etwas aufbauen wollen und unsere freiheitlich demokratische Grundordnung schätzen.“

„Geht um fehlende Aktion vorher“: CDU-Politiker kreidet Ampel-Versagen vor Solingen an

Der Menschenrechtspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Michael Brand, erklärte gegenüber IPPEN.MEDIA angesichts geforderten Verschärfungen in der Asylpolitik, dass dies keine Reaktion auf Solingen, sondern eine fachlich begründete Forderungen seit Jahren sei. Die Kernanliegen dabei: solide Unterscheidung zwischen legaler und illegaler Migration, wirksamer Schutz der Außengrenzen, Umsetzung von Abschiebungen, bessere Ausstattung und Befugnisse für Polizei und Verfassungsschutz, um neue Phänomene wie Radikalisierung im Internet besser erfassen zu können.

„Es geht also nicht um Reaktion, es geht um fehlende Aktion vorher, vor diesen schrecklichen Taten. Das ist keine Garantie, aber es bedeutet ganz klar erhöhte Sicherheit. Das fordern viele seit langem, aber die Ampel verweigert fast alles davon; das muss man auch ändern, dringend“, sagte der Politiker auf Nachfrage. Mit Denkverboten und ideologischen Vorwürfen würde Deutschland seiner Ansicht nach keinen Meter vorankommen. „Gerade, weil die Ampel dieses Thema so lange nicht anfassen wollte, hat sie die Sicherheit im Inland gefährdet und dazu den Extremisten ein Thema überlassen. Das muss endlich aufhören, und wir müssen Lösungen haben, statt Ideologie.“

SPD-Politiker ordnet Migrationsdebatte vor Landtagswahlen ein – „enttäuscht die Menschen nur“

Der SPD-Abgeordnete Frank Schwabe drängt bei der aktuellen Migrationsdebatte nach dem Messerangriff in Solingen zur Umsicht: „Es macht überhaupt keinen Sinn, unerfüllbare und undurchführbare Forderungen zu stellen. Das enttäuscht die Menschen nur noch mehr und verschiebt in der Tat den Diskurs problematisch weiter nach rechts und macht damit Rechtsextreme stärker“, sagte der Politiker gegenüber IPPEN.MEDIA.

Doch auch Schwabe stellte klar, dass es auf der anderen Seite mehr Ordnung und Kontrolle in der Migrationsdebatte brauche. „Deshalb unterstütze ich schon länger Vorschläge zu einer Drittstaatsregelung, wie sie unter anderem Gerald Knaus macht. Das heißt, dass Asylverfahren nach rechtsstaatlichen Grundsätzen in einem oder mehreren Ländern außerhalb Europas durchgeführt werden sollen.“

Jensen: „Extreme Rechte nutzt den Anschlag in Solingen“ vor Sachsen-Wahl und Thüringen-Wahl aus

Angesichts des Messerangriffs von Solingen führt Jensen aus: „Ziel von Terror ist es, Unruhe zu stiften, Angst zu säen, Instabilität zu fördern. Im politischen Raum überschlagen sich nach solchen abscheulichen Taten regelmäßig die Forderungen und dann gibt es Schuldzuweisungen.“ Sie sei überzeugt, dass nun der Punkt erreicht wurde, „wo wir grundsätzlich mit allen verantwortlichen Ebenen eine ehrliche Bestandsaufnahme machen müssen“. Es würde nicht darum, ob sich „eine Debatte nach rechts verschiebt, sondern um die Frage, wie die verantwortlichen Ebenen wieder Herren der Lage werden“.

Mit Blick auf die Sachsen-Wahl und der Thüringen-Wahl sagte die FDP-Politikerin: „Die extreme Rechte nutzt den Anschlag in Solingen seit Bekanntwerden aus und wird das auch weiterhin tun. Ihre Forderungen sind seit längerer Zeit radikaler, als die der demokratischen Mitte.“ Das Thema Migration sei ausschlaggebend für die Wahlentscheidung vieler Menschen in Thüringen und Sachsen. „Deshalb müssen wir realistische und pragmatische Lösungen präsentieren, statt uns in Meta-Debatten über den Zustand der Diskussionskultur zu verlieren.“

Soziologe kritisiert „begriffliche“ Entgleisungen“ vor Sachsen-Wahl und Thüringen-Wahl

Dass es bei der aktuellen Migrationsdebatte nach dem Messerangriff in Solingen zu „begrifflichen Entgleisungen“ komme, sieht auch Soziologe Kiess und verweist etwa auf den sächsischen Innenminister Armin Schuster (CDU), der am Montag eine „Vergrämungspolitik“ gegen Schutzsuchende forderte. Forderungen – wie die von CDU-Chef Merz – nach einem Aufnahmestopp für Schutzsuchende aus Syrien und Afghanistan, würden die „Grenzüberschreitungen der AfD“ normalisieren, erläuterte Kiess mit Blick auf die anstehenden Landtagswahlen.

Wer solche, verfassungsrechtlich kaum haltbaren, Forderungen aufstelle, laufe Gefahr, Menschen zu enttäuschen und sie in die Hände der Auswirkungen der Solingen-Debatte auf Ost-Wahlen AfD zu treiben, so Kiess weiter. Seiner Ansicht nach wäre stattdessen eine empathische Debatte angebracht, die die Trauer der Betroffenen in den Mittelpunkt rückt. (KaBec/fbu)

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