Außenministerin Baerbock boxt mir Mädchen im Geflüchtetenlager Qadiya im Irak
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Feministische Außenpolitik im Irak: Außenministerin Annalena Baerbock besucht ein Boxtraining für Mädchen in Qadiya, einem Lager für Binnenvertriebene.

Scheinbarer Widerspruch

Annalena Baerbock und die feministische Außenpolitik: Wie sich Werte und Interessenpolitik verbinden lassen

  • Christiane Kühl
    VonChristiane Kühl
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  • Anna-Katharina Ahnefeld
    Anna-Katharina Ahnefeld
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Außenministerin Annalena Baerbock wirbt auf Auslandsreisen eindringlich für Werte und Demokratie. Manche sehen dies als Widerspruch zu einer interessengeleiteten Realpolitik. Doch ist das wirklich so?

Berlin – Fällt der Name Annalena Baerbock, fehlt selten der Begriff „wertegeleitete Außenpolitik“. Dabei verwendet die Grünen-Politikerin diesen selbst kaum noch. Stattdessen macht sie seit ihrem Amtsantritt mit einem starken Bekenntnis zu einer feministischen Außenpolitik auf sich aufmerksam. Diese weltweit zunehmend diskutierte ‚feminist foreign policy‘ steht im Koalitionsvertrag der Ampelregierung. Im März 2023 stellten Auswärtiges Amt und Bundesentwicklungsministerium gemeinsam ihre Leitlinien für eine feministische Außenpolitik vor – und nicht für eine wertegeleitete Außenpolitik.

Dennoch: Baerbock spricht gerne von einer Wertegemeinschaft und von Wertepartnern, insbesondere im Zusammenhang mit Russlands Invasion in der Ukraine oder der Klimakrise. Bei Reisen nach China, Saudi-Arabien oder Brasilien wirbt sie stets für Werte wie Demokratie und Menschenrechte.

Wertegeleitete und feministische Außenpolitik: Kein Gegenpol zur Realpolitik

Um Verwirrung an dieser Stelle zu vermeiden, lohnt es sich, wertegeleitete und feministische Außenpolitik auseinander zu dividieren. Dafür geht es nach Berlin. Im Bezirk Schöneberg leitet Kristina Lunz das von ihr mitbegründete Centre for Feminist Foreign Policy. „Jede feministische Außenpolitik ist eine wertegeleitete – aber nicht jede wertegeleitete Außenpolitik ist eine feministische“, sagt sie. Lunz gibt ein Beispiel: Wenn Annalena Baerbock in China auf Menschenrechte und Werte poche, sei das wertegeleitet – aber nicht notwendigerweise feministisch. Hingegen sei ihre Außenpolitik jedes Mal, wenn sie feministische Fragestellungen in den Mittelpunkt stelle, automatisch auch von Werten motiviert.

Beide – wertegeleitete und feministische Außenpolitik – werden in der Debatte immer wieder als gegenläufige Pole zur Realpolitik dargestellt. Realpolitik gilt als pragmatisch und sich an den faktischen Gegebenheiten anderer Länder orientierend, während Kritiker eine wertegeleitete Politik gern als von Nebensächlichkeiten dominiertes Wunschdenken abwerten. Diese Sichtweise weist Kristina Lunz entschieden von sich: „Die Vorstellung, dass feministische Außenpolitik in Kontrast zur Realpolitik steht, ist schlicht falsch.“

Das gängige Narrativ zur Realpolitik basiere auf einer männlichen Perspektive des Globalen Nordens, sagt Lunz. „Zu denken, dass Realpolitik das sei, was Männer machen – und alles andere sei Identitätspolitik –, das ist ein zutiefst patriarchales Verständnis“, so die Buchautorin („Die Zukunft der Außenpolitik ist feministisch“).

Werte und Interessen koexistieren in der Außenpolitik

Natürlich ist die deutsche Außenpolitik auch von eigenen Interessen geprägt. Auf seiner Homepage schreibt das Auswärtige Amt: „Deutsche Außenpolitik ist werteorientiert und interessengeleitet.“ Denn würde die Bundesrepublik nur mit Ländern Beziehungen unterhalten, deren Staatsführung die eigenen Werte teilt, wäre die Liste kurz. Stattdessen bestehen bilaterale Beziehungen zu 195 Staaten. So verlangt Außenpolitik oftmals, im Sinne der eigenen Interessen zu handeln – Beispiel Handelspartner und Energie – und gleichzeitig zu ertragen, dass die wirtschaftlichen und politischen Partner andere Werte haben.

Auch die am Mittwoch präsentierte Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) führt Werte und Interessen im Fall Chinas zusammen. China beanspruche immer offensiver eine regionale Vormachtstellung und „handelt dabei immer wieder im Widerspruch zu unseren Interessen und Werten“, heißt es darin. Der Begriff „Wertepartner“ gehört inzwischen zum gängigen Vokabular im Bundestag, quer durch die Parteien. Finanzminister Christian Lindner (FDP) sagte etwa bei der Pressekonferenz zur NSS: „Die USA sind ein Wertepartner, China ist ein Handelspartner, aber Werterivale.“ 

Globaler Süden sieht westliche Werte teilweise kritisch

Annalena Baerbock ist bekannt dafür, gegenüber schwierigen Partnern das deutliche Wort nicht zu scheuen. So prangert die Ministerin Länder wie Russland oder China öffentlich dafür an, dass sie jene Werte nicht teilen, die wir als universal ansehen. Das gefällt vielen nicht. China etwa glaubt nicht an weltweit gültige Werte und Normen. Der chinesische Außenminister Qin Gang kritisierte Baerbock im Frühjahr bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in Peking: „Was China am wenigsten braucht, ist ein Lehrmeister aus dem Westen.“ Trotzdem reiste Qin nur wenige Wochen später nach Deutschland – und traf die unbequeme Amtskollegin ein zweites Mal.

China will keine Lehrmeister aus dem Westen: Außenminister Qin Gang mit seiner Amtskollegin Annalena Baerbock im Auswärtigen Amt.

Nicht nur Baerbock wird als Lehrmeisterin angesehen, und nicht nur China lehnt die Sichtweise des Westens ab. Viele Länder des Globalen Südens wollen keine Bevormundung durch Europa und die USA. Als einstige Kolonialmächte sind die Europäer:innen in vielen Ländern etwa in Afrika wenig beliebt. In der Klimakrise oder im Umgang mit dem Völkerrecht werfen Staaten des Globalen Südens dem Westen immer wieder eine Doppelmoral vor. In dieser Gemengelage den richtigen Weg und den richtigen Ton zu finden, ist eine Herausforderung.

Baerbock versuchte dies kürzlich wieder in einer Rede im brasilianischen São Paulo. Dort warb sie eindringlich auch unter dem Stichwort Demokratie für den Abschluss des Freihandelsabkommens der EU mit der südamerikanischen Mercosur-Staatengemeinschaft – einschließlich verbindlicher Kriterien für Soziales, Nachhaltigkeit und Ökologie. Dieses sei „auch eine geopolitische Antwort auf Fragen in all unseren Gesellschaften zum Mehrwert von Demokratie“, so Baerbock. So zeige es, dass Demokratien und nicht Autokratien Lösungen brächten, betonte sie mit Blick auf das autoritär regierte China.

Außenpolitik: „Wenn wir unsere Prioritäten hinterfragen, passen auch unsere Werte und Interessen überein“

Demokratische Systeme existieren nicht nur in sogenannten westlichen Ländern, wie die Beispiele Indien, Südkorea oder Japan zeigen. Demokratiebewegungen gibt es weltweit. Und in zahlreichen Ländern wie Afghanistan oder Iran kämpfen zivilgesellschaftliche Akteur:innen für Gleichberechtigung und grundlegende Menschenrechte. Die Menschenrechte sind festgeschrieben in der UN-Charta – und somit basierend auf der Übereinkunft einer globalen Gemeinschaft von 193 Staaten. Das Problem: China etwa legt den Begriff ganz anders aus als der Westen. Für China bedeutet die Wahrung der Menschenrechte vor allem, die materiellen Lebensumstände der Menschen zu verbessern. Im Zusammenhang mit politischen Rechten stellt China das Kollektiv, und mithin den Staat und die Kommunistische Partei, über die Bedürfnisse der Individuen.

Was also tun? Um aus dem Spannungszustand zwischen Werten und Interessen herauszukommen, ist für eine feministische Außenpolitik laut Kristina Lunz eine Orientierung an den Bedürfnissen der Zivilgesellschaft und der Frauen im Globalen Süden ein guter Kompass. Ministerin Baerbock sei bei ihren Reisen darauf bedacht, zivilgesellschaftliche Organisationen, zu besuchen und vulnerable Gruppen in den Mittelpunkt zu stellen, so Lunz. Die Expertin regt an, zu hinterfragen, was Interessen in der Außenpolitik eigentlich sind: „Im alten Verständnis von Prioritäten, in der Profitmaximierung und Handelsbeziehungen einer Gesellschaft an erster Stelle sind, stehen sich Werte und Interessen noch gegenüber.“

Doch diese Prämisse muss eben nicht in Stein gemeißelt sein, denn Interessen lassen sich immer wieder neu definieren. Durch die Klimakrise etwa drängen sich ganz andere Ziele in den Vordergrund. Und so kommt Lunz zu dem Schluss: „In dem Moment, in dem Werte unsere Interessen sind, passen wertegeleitete und interessengeleitete Außenpolitik sehr gut zusammen.“