Ruhestandswelle droht
Krise im Gesundheitssystem: Wieso man trotz Überversorgung keinen Arzttermin bekommt
Es steht schlecht um das deutsche Gesundheitssystem: Schon jetzt haben viele Patienten es schwer, einen Arzt zu finden. Laut Experten könnte sich die Situation noch weiter verschärfen.
Fulda - „Leider nehmen wir keine neuen Patienten auf.“ Diesen Satz hören Menschen tagtäglich, egal ob sie sich um einen Termin beim Augenarzt, Orthopäden oder Neurologen bemühen oder schlicht auf der Suche nach einem neuen Hausarzt sind. Denn niedergelassene Ärzte haben vielerorts ihre Kapazitätsgrenze erreicht. Wer das Glück hat, einen Termin zu ergattern, muss sich meist auf monatelange Wartezeiten einstellen. Kurios: Die Kassenärztliche Vereinigung (KV) in Hessen attestiert in etlichen Regionen eine Überversorgung mit Medizinern, wie fuldaerzeitung.de berichtet.
Krise im Gesundheitssystem: Trotz Überversorgung kein Arzttermin
Doch warum spricht die KV Hessen von einer Überversorgung? Wer eine eigene Praxis eröffnen und dort gesetzlich versicherte Patienten behandeln möchte, muss sich bei der KV auf einen freien Arztsitz bewerben. Wie viele Arztsitze zu besetzen sind, berechnet die KV, indem sie für jedes ärztliche Fachgebiet eine Verhältniszahl bestimmt, also festlegt, wie viele Patienten ein Arzt behandeln sollte.
In Relation zur Einwohnerzahl bestimmt sie so die Anzahl der zu vergebenen Kassensitze. Die Ergebnisse dieser Berechnung veröffentlicht sie im sogenannten Bedarfsplan, der alle drei Jahre aktualisiert wird. Wie die KV hier im Detail rechnet, ist hochkomplex und selbst für Mediziner kaum nachvollziehbar.
In Stadt und Landkreis Fulda beispielsweise weisen laut Angaben der KV alle ambulanten, medizinischen Fachbereiche einen Versorgungsgrad von über 100 Prozent aus. Überversorgt gelte eine Region ab einer 110-prozentigen Versorgung. Für Chirurgen und Orthopäden ist dieser Wert mit rund 139 Prozent am höchsten. Selbst die kinderärztliche Versorgung liegt bei 118 Prozent.
Dabei zeigt sich auf Nachfrage bei Fuldas Kinderärzten, dass keine der vier städtischen Praxen noch neue Patienten aufnimmt, Menschen also trotz Überversorgung keinen Arzt finden. „Im Falle von Fulda könnte dies beispielsweise daran liegen, dass in Fulda/im Landkreis Fulda auch Kinder aus angrenzenden, teils weniger gut versorgten Regionen wie dem Schwalm-Eder-Kreis, mitversorgt werden“, räumt Alexander Kowalski, stellvertretender Pressesprecher der KV-Hessen, auf Anfrage ein.
Schlechter sieht die medizinische Versorgung in ländlich geprägten Regionen wie dem Vogelsbergkreis aus. Dort besteht im Bereich der Augen-, HNO- und Frauenärzte eine Unterversorgung, da der Versorgungsgrad hier nur bei 65, 85 bzw. 87 Prozent liegt.
Warum sich die Lage im Gesundheitssystem weiter verschärfen wird
Es steht zu befürchten, dass sich die Lage verschärfen wird, da die KV freie Arztsitze künftig nur schwierig wird besetzen können. Hauptgrund hierfür: Der demographische Wandel. Schon heute ist fast jeder zweite Arzt nach Daten der Ärztestatistik der Bundesärztekammer älter als 50 Jahre, fast jeder dritte Facharzt hat das 60. Lebensjahr bereits überschritten und gut jeder zehnte Arzt ist 65 oder älter und steht damit kurz vor dem Ruhestand. Gleichzeitig reduzieren 58 Prozent der Ü-65-Jährigen ihre Wochenarbeitszeit auf durchschnittlich 16 Stunden. Die Bundesärztekammer warnt daher vor einer drohenden Ruhestandswelle.
Zwar steige die Gesamtzahl berufstätiger Ärzte trotz zunehmender Abwanderung ins Ausland leicht an. Doch viele Ärzte scheuen das Risiko einer eigenen Praxis. Entsprechend sank die Zahl der niedergelassen Ärzte 2022 um 3,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, wohingegen die Zahl der angestellten Ärzte mit 12,6 Prozent ein Rekordwachstum auf mittlerweile mehr als 55.500 Mediziner verzeichnet.
Laut KV Hessen sei die klassische Einzelpraxis demnach „ein Auslaufmodell“. „Die Ärztinnen und Ärzte tendieren heute zu Praxisgemeinschaften, denn sie möchten sich – anstatt 60 bis 70 Stunden in der Woche zu arbeiten – auch privat verwirklichen“, so Kowalski. Laut Bedarfsplanung arbeiteten heute hessenweit bereits 38 Prozent aller Ärzte in Teilzeit, 2009 waren es lediglich vier Prozent. Vor diesem Hintergrund werde das Ausscheiden der Baby-Boomer für das System zur Belastungsprobe.
Angesichts des Status Quo empfehlen Stadt und Landkreis Fulda Patienten, die Schwierigkeiten haben, einen Arzttermin zu bekommen, sich unter der 116 117 oder online an die Terminservicestelle der KV zu wenden. Dass Menschen dieser Empfehlung häufig nicht folgen, zeigt ein Blick auf die angespannte Lage in den Notaufnahmen der Krankenhäuser. Im Klinikum Fulda etwa sind deutlich mehr als die Hälfte der Patienten keine Notfälle und müssten daher ambulant versorgt werden.
„Die ambulante Notfallversorgung wird durch die niedergelassenen Vertragsärzte wahrgenommen. Dazu gehören auch die Ärztinnen und Ärzte im Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ)“, erklärt Dr. Sebastian Schiel, Direktor des Zentrums für Palliativmedizin im MVZ Osthessen. Das MVZ könne man sich als einen gemeinsamen Verbund von Facharztpraxen vorstellen.
Außerhalb der Praxisöffnungszeiten müssten sich Patienten an den Ärztlichen Bereitschaftsdienst (ÄBD) und nicht an die Notaufnahme wenden. Doch das tun sie nicht immer. Laut Dr. Benedikt Pircher, einem Künzeller Kinderarzt, empfänden Patienten die Wartezeiten beim niedergelassenen Facharzt häufig als zu lang.
Krise im Gesundheitssystem: Mediziner mit klaren Forderungen an Politik
„Wenn ich mit Rückenschmerzen ins Klinikum gehe, komme ich in aller Regel mit einer Diagnose wieder raus. Gehe ich zum niedergelassenen Arzt, warte ich drei Monate auf einen Termin“, sagt Pircher. Daher bräuchte es eine stärkere Verzahnung des ÄBD mit der Notaufnahme, damit sich diese auf die tatsächlichen Notfälle konzentrieren könne.
Die Mediziner sehen nun die Politik in der Verantwortung. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) fordert 5000 Medizinstudienplätze mehr und vertritt damit die Position der Landesärztekammer Hessen. Die Delegierten verlangen von der Politik, die Zahl der Medizinstudienplätze wieder auf das Niveau bei der Wiedervereinigung zu erhöhen. Damals lag dieser Wert bei rund 16.000, heute liegt er bei etwa 11.000. Gleichzeitig müsse die überbordende Bürokratie reduziert werden, um Medizinern mehr Zeit für die Arbeit mit Patienten zu verschaffen.
Tatsächlich investiert das Land Hessen 41 Millionen Euro in den Ausbau der klinischen Studienplätze. Durch eine Kooperation zwischen der Philipps-Universität Marburg, dem Klinikum und der Hochschule Fulda werden beispielsweise Teil- in Vollzeitstudienplätze umgewandelt. Im Wintersemester 2023/24 werden daher erstmals rund 90 Studierende ihren klinischen Studienteil in Fulda absolvieren. (von Toni Spangenberg)
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