Auf offener Straße
„Paralleljustiz“ in NRW: Clans prügeln sich in Innenstädten – Polizei spricht jetzt Klartext
VonPeter Siebenschließen
Maximilian Gangschließen
Großfamilien tragen auf offener Straße blutige Fehden aus – mitten in mehreren Städten in NRW. Neue Hinweise versetzen die Polizei jetzt in Alarmbereitschaft.
Essen – Hunderte teils bewaffnete Männer, die auf offener Straße aufeinander einprügeln: Szenen, die sich am Freitagabend (16. Juni) auf dem Salzmarkt, mitten im Herzen der Innenstadt von Essen (NRW), abgespielt haben. Die Polizei war mit zahlreichen Kräften vor Ort, um die Tumultlage einzudämmen. Mehrere Menschen wurden verletzt, darunter auch drei Polizisten. Erst wenige Tage zuvor hatte es eine Massenschlägerei in Castrop-Rauxel gegeben, die Behörden vermuten einen Zusammenhang. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) sprach von einer Fehde zwischen zwei verfeindeten Großfamilien.
Mutmaßlich geht es um Clans mit türkisch-arabischen beziehungsweise libanesischen und syrischen Wurzeln. Deren Gewaltexzesse passierten mitten in NRW-Innenstädten. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) in NRW nannte es einen Kampf um die „Vorherrschaft in ganzen Stadtvierteln“. Die Polizei ist nun nach neuen Hinweisen in Alarmbereitschaft – und spricht Klartext.
Clan-Eskalation in Essen und Castrop-Rauxel: Polizei will Zustände nicht länger dulden
Demnach erhielten die Beamten Kenntnis darüber, „dass sich eine größere Personengruppe in einer Moschee im Essener Norden treffen würde und möglicherweise im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen stehen könnte“, teilt die Polizei Essen am Montag mit. 200 Personen und etliche Fahrzeuge aus unterschiedlichen Städten waren vor Ort. „Wir ermitteln jetzt, ob das Treffen mit den Tumulten am Wochenende in Verbindung steht“, so ein Sprecher der Polizei Essen gegenüber wa.de von Ippen.Media. Der Verdacht: Während die Beteiligten gegenüber der Polizei beharrlich schweigen, sollte der Konflikt zwischen den zwei Großfamilien, der in Massenschlägereien in Castrop-Rauxel und Essen eskaliert war, intern mithilfe eines sogenannten Friedensrichters geregelt werden.
„Als Polizei dulden wir solch eine Paralleljustiz nicht und lehnen den Einsatz von Friedensrichtern kategorisch ab“, macht der Polizei-Sprecher deutlich. „Der Einsatz solcher Friedensrichter zeigt, dass die Leute den Rechtsstaat wissentlich missachten.“ Zudem würden rechtsstaatliche Ermittlungsverfahren so massiv erschwert.
Nach Clan-Massenschlägereien: Appell an Bevölkerung
Die Beamten appellieren auch an die Bevölkerung: „Wenn Sie feststellen sollten, dass sich Personen im Stadtgebiet zusammenrotten, scheuen Sie sich nicht, den Polizeinotruf 110 zu wählen. Da wir nicht überall gleichzeitig im Stadtgebiet sein können, sind auch Sie unsere Augen und Ohren“, heißt es in einer Mitteilung.
Polizei auf der Suche nach Handyvideos
Vor allem sei man aktuell auf der Suche nach Videos, die Szenen der Massenschlägerei in Essen zeigen, so der Polizeisprecher auf Nachfrage. Deshalb appellieren die Beamten auch an die Mitglieder der syrischen und libanesischen Community. Tatsächlich sei es oft sehr schwierig, Hinweise von Menschen zu erhalten, die im Umfeld der Clans leben. „Die Menschen sind häufig in den Familienstrukturen fest verankert. Sie trauen sich nicht, zur Polizei zu gehen.“ Vor Gericht würden die meisten nicht aussagen, auch aus Angst vor Repressalien oder Rache.
Das Hinweisportal der Polizei biete aber die Möglichkeit, völlig anonym, zum Beispiel Videos, an die Polizei zu übermitteln, heißt es in der Mitteilung: „Wir wissen, dass der Großteil von Ihnen dieses Verhalten nicht toleriert. Sie können uns jederzeit über das Hinweisportal (www.nrw.hinweisportal.de) anonym Hinweise und Videos zukommen lassen, um uns bei den weiteren Ermittlungen zu unterstützen. Sie können, müssen ihren Namen hierbei aber nicht nennen.“
Massenschlägerei zwischen Clans in Castrop-Rauxel: Mann schwebte in Lebensgefahr
Der Massenschlägerei in Essen war eine erste Eskalation am vergangenen Donnerstag (15. Juni) in Castrop-Rauxel (Kreis Recklinghausen) vorausgegangen. Über 50 Menschen waren dabei aufeinander losgegangen, bis an die Zähne bewaffnet: mit Baseballschlägern, Eisenstangen und Macheten schlugen sie aufeinander ein. Im Internet kursieren Videos von den erschreckenden Szenen. Mindestens sieben Menschen erlitten teils schwere Verletzungen, einer Person wurde in den Bauch gestochen. Er schwebte zwischenzeitlich in Lebensgefahr und musste notoperiert werden. Der Grund für das Blutvergießen soll eine Lappalie, ein Streit zwischen Kindern, gewesen sein.
Clan-Kriminalität in NRW
► Wenn die Rede von Libanesen-Clans ist, sind meist bestimmte Mitglieder von Großfamilien mit türkisch-arabischen Wurzeln gemeint. In Deutschland gehören nach Schätzungen des Bundeskriminalamts (BKA) rund 200.000 Menschen zu solchen Großfamilien. Die meisten von ihnen sind nicht kriminell. Einige aber haben sich zu Gruppierungen zusammengeschlossen, die Straftaten im Bereich der organisierten Kriminalität begehen.
► Viele gehören den sogenannten Mhallami-Kurden an, einer arabischstämmigen Volksgruppe. Ihre Vorfahren wurden nach dem Ersten Weltkrieg aus der Türkei vertrieben, kamen dann in den Libanon. Als dort Bürgerkrieg ausbrach (1975 bis 1990), flohen viele der Familien nach Deutschland.
► Als Geflüchtete wurden sie in verschiedenen Bundesländern untergebracht, vor allem in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bremen und Berlin. Als Staatenlose erhielten sie den Duldungsstatus. Menschen mit Duldungsstatus haben es auf dem Arbeitsmarkt schwer: Eine selbständige Tätigkeit ist ihnen untersagt, eine Beschäftigung als Arbeitnehmer nur auf Antrag möglich. Experten sehen in der Perspektivlosigkeit einen Grund dafür, dass sich kriminelle Netzwerke innerhalb der Familien gebildet haben.
► Die kriminellen Clan-Mitglieder begehen schwere Straftaten, wie Menschenhandel, Betrug, Erpressung und Raub.
Doch damit nicht genug: Am nächsten Tag versammelten sich erneut hunderte Mitglieder einer Streitpartei in Castrop-Rauxel, darunter auch Menschen, die noch stark von Verletzungen vom Vortag gezeichnet waren. Schnell war die Polizei mit Kräften vor Ort. Auch ein Hubschrauber war im Einsatz. Eine weitere Eskalation in Castrop-Rauxel am Freitag konnte verhindert werden.
Clan-Ausschreitungen in NRW: „Dulden solche Tumultszenen auf offener Straße nicht“
Die Polizei hat ihre Präsenz in Essen und Castrop-Rauxel zuletzt verstärkt. Oberbürgermeister Thomas Kufen sagte am Montag dazu: „Polizei und Stadt dulden solche Tumultszenen auf offener Straße nicht. Gemeinsam bleiben wir deshalb heute und den kommenden Tagen besonders wachsam“.
In Essen gab es bereits am Wochenende vermehrt Einsätze: „Insgesamt haben unsere Kolleginnen und Kollegen am Wochenende über 250 Personen und mehrere Dutzend Fahrzeuge kontrolliert. Hierbei wurden mehrere Messer, ein Reizstoffsprühgerät, Schlagwerkzeuge wie Baseballschläger, Eisenstangen und mit Nägeln bespickte Dachlatten sowie eine Anscheinswaffe sichergestellt“, teilt die Essener Polizei mit.
Am Montagabend haben sich zudem Polizei und Ordnungsbehörden getroffen, wie die Stadt Essen mitteilte. Dort habe man verabredet, dass unter anderem „ein detailliertes Lagebild zur syrischen Community in Essen erstellt werden soll“, so die Stadt. Zudem soll die enge Zusammenarbeit in der „besonderen Aufbauorganisation Clan konsequent“ weitergeführt werden. Darin werden seit 2018 alle polizeilichen Kompetenzen in einer Hand gebündelt, um die Clan-Kriminalität effektiver bekämpfen zu können.
Clan-Kriminalität schon lange ein Problem in NRW
Clan-Kriminalität ist bereits seit Langem ein großes Problem in den Städten im Ruhrgebiet, beispielsweise auch in Duisburg. Dort teilen sich drei der Großfamilien nach Angaben eines örtlichen Polizisten den Stadtteil Marxloh auf, berichtet 24RHEIN. Bereits 2020 sprach Innenminister Reul von einem „Mafia“-Niveau der Clans in NRW. Immer wieder kommt es zu großangelegten Razzien gegen Clan-Kriminalität.
In Essen verfolgt die Polizei seit einigen Jahren eine bestimmte Strategie gegen Clans, den sogenannten „Aktionsplan Clan“. „Die Strategie ist, kriminelle Clans immer wieder bei ihren Aktivitäten zu stören, etwa durch ständige Kontrollen. Das ist allerdings nicht im Sprint zu erreichen. Die kriminellen Mitglieder der Clans hatten jahrzehntelang Zeit, sich zu etablieren“, sagte Essens Polizeipräsident Andreas Stüve im April im Interview mit wa.de. (mg, pen)
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